Fußgänger und Radfahrer werden in den Niederlanden höher gestellt als der Autoverkehr – hier ein Beispiel im Wortsinn aus Eindhoven.

Foto: imago/Jochen Tack

Innsbruck – Zwei Kinder sind tot, zwei Familien zerstört. Doch anstatt zu fragen, wie man dieses sinnlose Leid in Zukunft vermeiden kann, ergeht sich die Nation in noch sinnloseren Diskussionen. Die Schuldfrage nach der Tragödie in Niederösterreich mag juristisch von Bedeutung sein, doch sie löst das Problem nicht, das sie herbeigeführt hat. Um den tödlichen Kleinkrieg auf Österreichs Straßen zu beenden, bedarf es eines radikalen Umdenkens. Wie das geht, haben die Niederlande vor fast 40 Jahren vorexerziert.

So wandelten sich die Niederlande vom Autoland zur Radnation.
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Es ist heute kaum vorstellbar, doch Amsterdam war einst ein Mekka für Automobilisten. Der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit brachte bisher unbekannten Wohlstand. Wie auch andernorts investierten die Bürger diesen in Autos, die zum Statussymbol avancierten. Doch die Zunahme an motorisiertem Individualverkehr hatte für die Gemeinschaft ausschließlich negative Folgen. Die Niederländer erkannten das rasch und schmerzhaft.

Der Blutzoll der Blechkisten

Nicht nur, dass die stinkenden Kisten immer mehr öffentlichen Raum in Beschlag nahmen, der ohnehin knapp bemessen ist. Sie wurden zur tödlichen Gefahr für alle anderen, schwächeren Verkehrsteilnehmer. Die Zahl der Toten im Straßenverkehr sorgte für Entsetzen. 1972 war das blutigste Jahr auf den niederländischen Straßen: mehr als 3.200 Tote, davon rund 400 Kinder. Immer weniger Menschen waren bereit, für die vermeintliche Freiheit in den stinkenden Blechkisten einen derart hohen Blutzoll zu entrichten.

Im ganzen Land formierte sich Widerstand. Die bekannteste Gruppe unter vielen war "Stop de Kindermoord", was so viel bedeutet wie "Stoppt den Kindermord". Ziel der Aktivisten war es, die Verkehrspolitik des Landes von Grund auf zu verändern. Autos sollten nicht mehr länger an der Spitze der Mobilitätspyramide stehen. Fußgänger und Radfahrer seien wichtiger und schützenswerter, ergo zu bevorzugen, so die Forderungen. Die Politik zeigte sich den Aktivisten gegenüber sehr offen und ging darauf ein.

Unvermögen der Verkehrspolitiker

Für gelernte Österreicher klingt das völlig utopisch. Hierzulande ist der motorisierte Individualverkehr nach wie vor heilig. Völlig undenkbar ist die Vorstellung, ein Verkehrsminister, wie zuletzt Norbert Hofer (FPÖ) bewiesen hat, würde sich auch nur im Geringsten für Fußgänger oder Radfahrer starkmachen. Im Gegenteil, Hofers Vermächtnis ist eine Geschwindigkeitserhöhung auf Autobahnen.

Übergangsverkehrsminister Andreas Reichhardt scheint sich beidbeinig in die kleinen Fußstapfen seines Vorgängers stellen zu wollen. Er kündigte nach dem tragischen Unfall in Niederösterreich an, die Straßenverkehrsordnung (StVO) hinsichtlich der Kinderbeförderung auf und mit dem Fahrrad prüfen zu lassen. Er macht damit die Radfahrer zum Problem, ein zutiefst österreichischer Reflex, wie es scheint.

Falscher Fokus auf Fahrräder

So ist in der StVO auf den Quadratzentimeter genau festgelegt, wie groß die Rückstrahler auf Fahrrädern sein müssen. Der zum sicheren Überholen vorgeschriebene Seitenabstand zwischen Pkw und Rad wird hingegen mit "ausreichend" autofreundlich locker ausgelegt. Es braucht Politiker, die bereit sind umzudenken, um sich der echten Gefahr zu widmen. Und die geht vom motorisierten Verkehr aus.

Dieser verpestet die Luft, er beschlagnahmt Unmengen an Platz, er tötet uns. Und am allerschlimmsten, er tötet unsere Kinder. Die meisten von uns sind nicht nur entweder Fußgänger oder Radfahrer oder Autofahrer. Die Schnittmengen sind groß, daher müssen wir das Problem auch als unser aller ansehen. Wenn sich die Bürger einig sind, dass es Veränderung braucht, wird die Politik reagieren.

Gemeinsames Ziel verfolgen

Die Niederländer haben es vorgemacht. Die Österreicher müssen es noch lernen. Es geht nicht darum, ob die Mutter der verstorbenen Kinder oder der Autofahrer mehr Schuld trägt. Beide werden ihres Lebens nicht mehr froh, und dieses Schicksal gilt es künftig zu vermeiden. Um unser aller willen, in unser aller Sinne. Wer würde denn nicht gern auf ein sündteures Auto verzichten, das man meist eh nur selten wirklich braucht? Wer würde nicht lieber auf einem gut ausgebauten, räumlich von der Straße getrennten Radweg morgens zur Arbeit rollen?

Mobilität muss neu gedacht werden. Das geht aber nur, wenn es die dafür nötige Infrastruktur gibt. Dazu sind radikale Schritte nötig. Pkws den Platz wegnehmen, überall. Fußgänger und Radfahrer sollen dafür ihren, voneinander, so gut es geht, getrennten Platz erhalten. Die Veränderung wird groß, aber nicht schmerzlich sein. Es geht nicht darum, Autos komplett zu verbieten. Es geht darum, ihre Nutzung so unattraktiv wie möglich zu machen – indem man bessere Alternativen schafft.

Das Beste daran ist, niemand muss das Rad in dem Fall neu erfinden. Die Alternativen sind schon da und haben sich in der Praxis zigfach bewährt. Doch anstatt sie zu fördern, werden Fußgänger und Radfahrer gezwungen, sich dem motorisierten Verkehr anzupassen und unterzuordnen.

Fakten sprechen für sich

Bevor nun das reflexartige "Aber die Radfahrer halten sich an keine Regeln!" kommt: ja, stimmt. Es gibt Rowdies unter Radlern, Unvorsichtige und Schusselige. Aber genau diese Persönlichkeiten gibt es auch unter den Autofahrern. Mit einem tödlichen Unterschied: die einen gefährden in erster Linie sich selbst, die anderen ihr gesamtes Umfeld. Und je mehr man die zweite Gruppe reduziert, umso mehr Energie kann man darauf verwenden, sich um die erste zu kümmern.

Wen nur Zahlen überzeugen, der soll einen Blick auf die Statistiken werfen. In Österreich waren im Vorjahr 400 Verkehrstote (2017: 414) zu beklagen bei einer Einwohnerzahl von knapp neun Millionen. In den Niederlanden waren es 678 (2017: 613) bei mehr als 17 Millionen Einwohnern. Zum historischen Vergleich: 1972 war in beiden Ländern das jeweils blutigste im Straßenverkehr. Wie oben erwähnt, starben mehr als 3.200 Menschen in den Niederlanden. In Österreich waren es mit 2.948 fast ebenso viele.

Sicherheit für Fußgänger

Die Oranjes machen also offensichtlich etwas besser. Besonders deutlich wird das bei der Zahl der verunglückten Fußgänger, der schwächsten und schützenswertesten Verkehrsteilnehmer. 45 von ihnen verloren 2018 auf Österreichs Straßen das Leben, in den Niederlande waren es 54. Der um ein Vielfaches höhere Radverkehrsanteil – in Österreich liegt er bei 6,5 Prozent, in den Niederlande bei rund 30 Prozent – bedingt also keine erhöhte Gefahr für Fußgänger. Im Gegenteil, je mehr Radler und je weniger Autos, um so sicherer sind Fußgänger.

Vom radikalen Umschwenken hin zu einer auf Fußgänger und Radfahrer fokussierten Verkehrspolitik profitieren also alle. Außer vielleicht die Automobil- und Mineralölindustrie. Doch deren Interessen sind keine Menschenleben wert. Also machen wir es doch wie die Niederländer und stoppen die Kindermorde auf unseren Straßen. (Steffen Arora, 8.8.2019)