Dass Kinder mit Beeinträchtigungen in Kasachstan bei ihrer Familie leben, ist selten.

Screenshot: Human Rights Watch

Wenn die Kinder nicht spuren, kommt der Krankenwagen. Der bringt sie dann in das nächste psychiatrische Spital, das sie teilweise wochenlang nicht verlassen werden. Wenn die Kinder zu laut sind, kommt die Nadel. Durch sie wird ihnen ein Medikament verabreicht, das sie bis zu 24 Stunden schlafen lässt.

In den Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Kasachstan liegt vieles im Argen, wie ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) aufzeigt.

Zwischen Oktober 2017 und April 2019 führten die Aktivisten Gespräche mit betroffenen Kindern und Jugendlichen, Eltern, Angestellten von Einrichtungen und Experten für Menschen mit Behinderungen. Außerdem besuchten die HRW-Mitarbeiter selbst drei Institutionen in der Ex-Sowjetrepublik.

Eltern verlieren Vormundschaft

"Sie haben meinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Ich habe eine Gehirnerschütterung gehabt. Die Pfleger schlugen mich, sie tranken und schlugen jeden", zitieren die Verfasser des HRW-Berichts einen 23-Jährigen, der in einer Einrichtung für Kinder mit Beeinträchtigungen aufgewachsen ist. Denn obwohl viele der mehr als 2.000 Kinder und Jugendlichen in den Institutionen des Landes noch mindestens einen lebenden Elternteil haben, übernimmt automatisch der Leiter der Einrichtung die Vormundschaft.

Auch in dem Bericht der UN-Sonderbeauftragten für Menschen mit Behinderungen, Catalina Devandas, werden die Missstände angesprochen. Sie besuchte im September 2017 Kasachstan. Devandas berichtet von einem weitverbreiteten Stigma im Land, das Menschen dazu drängt, behinderte Familienangehörige vor der Öffentlichkeit zu verstecken.

Noch immer werde Eltern von Behörden und Offiziellen nahegelegt, ihre Kinder in staatliche Einrichtungen zu verfrachten, so Devandas. Laut der UN-Sonderbeauftragten sind vor allem Mädchen und Frauen Opfer von Gewalt und Missbrauch in den Anstalten.

Zehnjährige in Zwangsjacke

Bei einem Besuch in einer Einrichtung beobachteten HRW-Mitarbeiter, wie Pfleger die Arme eines zehnjährigen Mädchens fesselten, vor ihrem Körper kreuzten und an ihrem Rücken zusammenbanden. Die Angestellten sagten, dass sie so die Kinder ruhigstellen, die "wirklich verrücktspielen". Dabei würden die Kleinen aber nie länger als eine halbe Stunde fixiert werden.

Selbst diese kurze Zeit ist laut dem UN-Sonderbeauftragten für Folter zu lange. Denn behinderte Menschen dürfen in keiner Weise gefesselt werden, da das "als Folter und Misshandlung bezeichnet werden kann". Auch die chemische Fixierung durch Psychopharmaka, die die Minderjährigen ruhigstellen, ist somit problematisch.

Die Kinder und Jugendlichen, die nicht oder nur wenig sprechen oder sich bewegen können, werden laut HRW-Bericht zum Teil stundenlang in Schlafsälen in ihren Betten liegen gelassen. Zudem gebe es keine schulische Ausbildung für die Betroffenen.

Zeitplan gefordert

In einer Stellungnahme gab das kasachische Arbeits- und Sozialschutzministerium zu, dass große Institutionen mit Schlafsälen zu einer Überbelegung führen und zur Folge haben, dass die Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend behandelt werden können. Die Behörde stellte in Aussicht, dass die Betroffenen künftig in staatlichen Heimen für zehn bis 50 Patientinnen und Patienten untergebracht werden sollen.

Für die HRW-Mitarbeiter ist das aber noch zu wenig. Sie fordern, dass die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung bei ihren Familien und inmitten der Gesellschaft aufwachsen. Eine Einweisung in staatliche Einrichtungen würde einer Inklusion im Weg stehen. Human Rights Watch fordert deshalb einen detaillierten Zeitplan für die Auflösung der geschlossenen Anstalten und dass die Kinder wieder mit ihren Familien vereint werden. (Bianca Blei, 10.8.2019)