"Hier irgendwo": Martin Pollack bei der historischen Detektivarbeit auf dem Friedhof von Spodnja Voličina.

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"Gespanntes Verhältnis zwischen den Volksgruppen": Laško/Tüffer um 1930.

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"Sie hat niemandem etwas zuleide getan": Der gewaltsame Tod von Pauline Bast war eine grausame Ironie des Schicksals.

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Kurz vor Maribor bogen wir Richtung Osten ab und erreichten nach einer Viertelstunde Schloss Hrastovec, früher Gutenhag. Unsere erste Station. Schon früh haben wir die mächtige, von Teichen umgebene Anlage im Blick, sie beherrscht weithin die Landschaft der Slovenske Gorice, der Windischen Bühel. Einst Besitz der Herberstein, ist Hrastovec heute eine psychiatrische Klinik. "Socialno varstveni zavod" steht neben dem Eingang, Institut für soziale Wohlfahrt.

Damals, im Sommer 1945, befand sich hinter den Schlossmauern ein Konzentrationslager für Deutsche, Ungarn, politisch verdächtige Slowenen, Kroaten, Serben. Monatelang haben die neuen jugoslawischen Machthaber ihre politischen Feinde unter unmenschlichen Bedingungen interniert, viele wurden Opfer "außergerichtlicher Tötungen", wie es heute noch euphemistisch heißt, sie wurden ermordet, die meisten starben wohl an Entkräftung oder an einer der im Lager grassierenden Krankheiten. Am 24. August 1945 kam hier auch Martin Pollacks Großtante Pauline Drolc, geb. Bast, ums Leben, sie dürfte die schlimmen hygienischen Zustände, den Hunger nicht ausgehalten haben. So gingen viele zugrunde, vor allem alte Menschen, aber auch Kinder. "Die Toten", berichtete eine der Überlebenden, "wurden an den Füßen über die lange Stiege hinuntergezogen, sodass der Kopf jedes Mal laut aufschlug."

Auf der Rückseite des Schlosses, wo in einem kleinen Park hohe Linden stehen, haben wir wenig später die vermutliche Stiege vor uns, sie führt von einer barocken Balustrade als zweiflügelige Treppe in den Park hinab. Wegen ihrer Baufälligkeit ist sie teilweise mit einer großen Plane abgedeckt, Gitter versperren den Zutritt. Man kann sich gut vorstellen, wie hier alle Tage ein Lastwagen hereingefahren kam und wie jedes Mal die Toten zum Abtransport auf ihn geworfen wurden.

"Pauline, auch Paula oder, slowenisch, Pavla genannt", war siebzig Jahre alt, ihr Ende kam abrupt und war dennoch vorhersehbar: die sinnlose Folge einer Feindseligkeit zwischen zwei Völkern, Deutschen und Slowenen, die einem heute unverständlich erscheint, erst recht im Fall von Pauline, die keine nationalen Dünkel kannte und ihr Leben lang in beiden Kulturen zu Hause war. 1875 kam sie als Tochter eines Gerbermeisters in Tüffer, heute Laško, zur Welt. Damals gehörte der kleine Marktflecken, in dem überwiegend Deutsch gesprochen wurde, zur Steiermark. 1925, als sie bereits fünfzig war, heiratete Pauline den Witwer Franc Drolc, den Organisten und Mesner der Pfarrkirche, einen Slowenen. Aber das spielte 1945 keine Rolle, für die Partisanen war Pauline eine Deutsche.

Der Nationalitätenhass hatte schon in der Monarchie begonnen. Paulines Brüder wurden rabiate Nationalisten und später überzeugte Nazis. "Onkel Ernst", der wie Pollacks Großvater als Rechtsanwalt im niederösterreichischen Amstetten lebte, blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1982 unversöhnlich: "Von den Tito-Slowenen zu Tode mißhandelt", schrieb er auf die Rückseite einer Fotografie, die seine Schwester wenige Jahre vor ihrem Tod zeigt. Nachsatz: "Ihr Grab ist unbekannt!"

Kein Grab, kein Name

Der Friedhof von Spodnja Voličina, unsere zweite Station, nur wenige Autominuten von Hrastovec entfernt. Martin Pollack zeigt über die Gräberlandschaft: Hier irgendwo, sagt er, aber das wird man wohl nie mehr erfahren. "Da redet niemand, schon gar nicht, wenn jemand von Österreich kommt und danach fragt." Als er 2012 erstmals hier gestanden ist, gab es nirgendwo einen Hinweis, dass auf dem Friedhof Opfer der Partisanen begraben liegen. Nirgendwo steht Pavla Drolc (Pauline Bast), der Name seiner Großtante. Man kann nicht einmal vermuten, wo die Menschen aus dem Lager Gutenhag verscharrt wurden. Auch an diesem heißen Vormittag Ende Juli können wir auf dem ganzen Friedhof keinen einzigen Hinweis auf sie entdecken. Ihr Ende bleibt eine ausgelöschte Geschichte.

Vor einigen Jahren hat Martin Pollack noch eine freie Ecke gesehen, weiter unten, wo noch keine Gräber standen – vielleicht war es ja dort. Heute sind alle Plätze belegt. Da muss man doch irgendwann Knochen, Spuren gefunden haben, möchte man meinen. Gleich nach dem Eingang aber entdecken wir das Grab von Franc Kurnik, geboren 1904, gestorben 1996. So hat der Totengräber von Voličina geheißen, der damals im August 1945 die Leichen aus dem Lager Hrastovec hier beerdigen hat müssen, in insgesamt 17 Gruben. Dabei hat er heimlich aufgezeichnet, wann er wen begraben hat. Am 26. August 1945 hat er auch eine "Pavla Drolc aus Laško" beerdigt, ohne Sarg, mit ihr zwei weitere männliche Leichen, deren Identität ihm unbekannt war. Vielleicht würde uns Franc Kurnik, würde er heute noch leben, ja etwas erzählen, zumindest hätte er viel zu sagen, denn damals hat er fast jeden Tag Leichen aus dem Schloss angeliefert bekommen. Dabei sind die meisten Toten gar nicht auf dem Friedhof gelandet, sie wurden im Schlamm der Teiche rund um das Schloss vergraben, was zur Folge hatte, dass in den nächsten Wintern die Teiche nicht mehr zufroren.

In dem kleinen Park hinter dem Schloss macht mich Martin auf eine ungarischsprachige Gedenktafel aufmerksam: Auch hunderte Ungarn waren damals zu Opfern der Partisanen geworden, zumindest ihnen wird heute von offizieller, also ungarischer Seite gedacht. Einen Gedenkstein für die deutschen Opfer gibt es nicht, die Republik Österreich hat das Schicksal der Altösterreicher nie interessiert.

Gefahr des Aufrechnens

Wie geht man mit einer solchen Geschichte um? Martin Pollack hat lange gezögert, dieses Buch zu schreiben. Selbst beim Abfassen hat er sich noch gefragt, ob es legitim sei, ob es nicht die Gefahr des Revanchismus, des Aufrechnens birgt. Die Frage hätte vielleicht damals, nach 1945, ihre Berechtigung gehabt, wo man Geschichten wie die von Pauline allzu leicht instrumentalisieren hätte können. Doch heute, wo wir längst andere Vorstellungen von Geschichte haben, darf uns keine falsch verstandene Political Correctness davon abhalten. Für Pollack stellt sich die Frage ganz anders, er ist überzeugt, "dass wir heute alle Geschichten erzählen können, vielleicht sogar müssen, ohne Zorn und Eifer, ohne etwas zu verschweigen oder auszublenden".

Er selbst hat immer wieder offen über seine Nazifamilie geschrieben. Mit seinem Vaterbuch Der Tote im Bunker hat er 2004 eine vielbeachtete Täterbiografie vorgelegt, die gleichzeitig auch eine Mentalitätsgeschichte ist: Sie hat ihren Ausgangspunkt in Laško, im Zusammenleben zwischen Deutschen und Slowenen, vielmehr in dem gespannten Verhältnis zwischen den beiden Volksgruppen am Ende der Monarchie. Die Basts bezogen in dem Nationalitätenkonflikt klar Position und empfanden sich als "Sprachgrenzendeutsche". Später wurden Martins Großvater und dessen jüngerer Bruder in Amstetten verbissene Nationalsozialisten, Martins Vater machte in der SS und bei der Gestapo Karriere und wurde 1945 als Kriegsverbrecher gesucht.

Heimat Tüffer

Zur selben Zeit wurde in der Untersteiermark brutal abgerechnet. Dass es in der Familie auch Opfer gab, hatte Pollack, als er das Buch über seinen Vater schrieb, noch nicht gewusst. Schon darin erzählt er anhand der Familiengeschichte von dem wechselseitigen, am Ende so unheilvollen Verhältnis der beiden Volksgruppen. 1918 hatten plötzlich die Slowenen das Sagen, 1941 gaben wieder die Deutschen den Ton an. Ein Konflikt, der auch durch die eigene Familie geht. Die Brüder in Amstetten wurden Nazis, Pauline in Tüffer und ihre Schwestern in Zagreb blieben davon unberührt.

Am Nachmittag erreichen wir Laško, zwölf Kilometer südlich von Celje. Unsere dritte Station. In alten Reiseführern kann man von einem "malerischen Felsental" lesen, das von der Sann, slowenisch Savinja, durchzogen wird. Romantisch wirkt die Landschaft noch heute.

Hier also liegt 'die Heimat der Basts, von der Martins Großvater und sein Onkel Ernst noch sehnsuchtsvoll sprachen, als dort "unten" schon alles anders war. Nach 1945 ist niemand mehr von ihnen hierhergekommen. Aber in der Erinnerung wurde der Heimatort verklärt, in den Erzählungen des Großvaters fand Martin Pollack geradezu eine Idylle beschworen, ein "versunkenes Paradies". Auch er kommt seit einigen Jahren öfter hierher und scheint sich in Laško, ehemals Tüffer, zu Hause zu fühlen, als hätte sich die Nostalgie vererbt. Er grüßt die Leute auf der Straße, und einmal redet ihn ein alter Mann an, sichtlich erfreut, sagt, dass er ihn kenne, und wünscht ihm alles Gute. "Heimat Tüffer", denke ich.

Ein wenig vermittelt der Ort, der 1927 zur Stadt erhoben wurde und dennoch klein und überschaubar geblieben ist, noch den Charme des 19. Jahrhunderts. Damals haben sich Martin Pollacks Urgroßeltern hier angesiedelt, in einem überwiegend deutschsprachigen Milieu, während in der Umgebung fast ausschließlich Slowenen lebten. Das war so lange kein Problem, solange das nationale Gift nicht in die Köpfe der Bewohner drang.

Was Paulines Brüder von der Einstellung der Schwester hielten, ist nicht bekannt, das Verhältnis war herzlich, und vermutlich wurde über Politik auch nicht geredet, Politik war nicht Frauensache. Unter der Oberfläche aber war die "Heimat Tüffer" ein Konfliktort, an dem der Nationalitätenhass zwischen Deutschen und Slowenen besonders tief ging. Als die Untersteiermark zur Gänze "deutsch" gemacht werden sollte, wurde die ganze Region für wenige Jahre zum Experimentierfeld des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Das Ende ist bekannt. Im Mai 1945 zogen die Partisanen in Tüffer ein, nun schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Eines Morgens wurde Pauline von einem "blutjungen" Partisanen, dem das Gewehr bis zu den Fersen hing, aus dem Haus geführt und nach Hrastovec deportiert. So wie die anderen Deutschen aus Tüffer, die nicht mehr rechtzeitig flüchteten.

Was aber hatte Pauline mit alldem zutun, fragt Martin Pollack am Ende seines Buches. Er hält das letzte Foto seiner Großtante in der Hand. Die Aufnahme entstand 1943, da war Pauline "68 Jahre alt und hatte noch zwei Jahre zu leben". Warum gerade sie?

Als wir auf dem Friedhof von Voličina vergeblich nach ihrem Grab suchten, hat mir Martin erklärt, warum ihm diese Geschichte so wichtig ist: Pauline sei das Beispiel dafür, dass man in einer solchen Zeit, in einer solchen Situation auch anständig habe bleiben können. "Sie ist nicht dem deutschen Kulturbund beigetreten, hat bei der nationalen Sache nicht mitgemacht. Das will ich mit dem Buch zeigen, dass es auch einen anderen Weg gab." Aber dass gerade die Anständigen so aus der Geschichte fallen und unsichtbar werden?

Sie ist "still und heimlich aus Tüffer verschwunden", schreibt Martin Pollack, und es scheint, dass Pauline 1945 auch aus der Familiengeschichte verschwunden ist, denn ihre Brüder, so viel sie von der Heimat in der Untersteiermark erzählten, haben sie nie erwähnt. Auf die unbekannte Großtante ist Pollack erst bei seinen Recherchen zu dem Buch über seinen Vater gestoßen, Jahre später hat er von ihrem gewaltsamen Tod erfahren.

"Pauline", schreibt Martin Pollack, "hat sich im Gegensatz zu ihren Amstettener Brüdern nie für den Nationalsozialismus engagiert und ihren slowenischen Landsleuten gegenüber stets loyal verhalten. Sie hat ruhig und zurückgezogen gelebt, eine seltsame, möglicherweise verschrobene Frau, doch immer freundlich und hilfsbereit. Dass ausgerechnet Pauline in den Nachkriegswirren grausam zu Tode kam, ist eine bittere Ironie des Schicksals."

Kontaminierter Boden

Am Ende ist das Erzählen die einzige Möglichkeit, den Toten ihre Geschichte zurückzugeben. Auf dem Friedhof von Laško haben wir gerade noch zwei Grabsteine mit einer deutschen Inschrift entdeckt, und die werden bald auch verschwunden sein. So wie schon vor Jahrzehnten das Bast-Grab, nach dem Martin, als er das erste Mal nach Laško kam, vergeblich gesucht hatte.

Mit der Erinnerung ist es nicht anders. Am Abend sitzen wir mit einem Historiker der Stadt in einem gemütlichen Gastgarten an der Savinja, Martin erkundigt sich nach Frau Jerše, die in dem etwas verfallen wirkenden Haus auf dem oberen Platz wohnt oder vielmehr gewohnt hat: Die über 90-jährige Dame, erfahren wir, befinde sich nunmehr in einem Pflegeheim. Fortgeschrittene Demenz. Sie habe sich zuletzt nicht mehr zurechtgefunden, nicht mehr gewusst, wo sie zu Hause sei. Vor einem Jahr hat sie Martin Pollack noch von Pauline erzählt.

Und Frau Knez? Auch sie ist schon sehr betagt. Am Ende des Buches hören wir sie sagen: "Wir konnten lange Zeit nicht glauben, dass in unserem Laško so et- was mit Frau Paula geschehen konnte. Sie war ein guter Mensch und hat niemandem etwas zuleide getan. Warum hat man ihr das angetan?"

Warum? Diese Frage begleitet die Opfer des gewaltvollen 20. Jahrhunderts, da ist "Pauline, auch Paula oder, slowenisch, Pavla genannt", nur eine von vielen. "Hat sie Widerstand geleistet", fragt Pollack. "Hat sie geweint und ihre Unschuld beteuert, oder hat sie sich still und resigniert in ihr Schicksal gefügt?" Schicksal heißt, dass die Geschichte nicht zwischen Schuldigen und Schuldlosen trennt. Sie ist voller Opfernarrative und lässt jenen kontaminierten Boden zurück, über den Martin Pollack 2014 eines seiner besten Bücher geschrieben hat: Kontaminierte Landschaften. Darin ist auch vom ehemaligen Bergwerk Huda Jama die Rede, das ganz in der Nähe liegt und in dem nach dem Krieg hunderte Opfer der Partisanen, manche noch lebendig, eingemauert wurden. Huda Jama heißt auf Deutsch "böse Grube". Es gibt in der Region viele solcher Orte. "Wo immer Sie bei uns graben, finden sie Knochen", sagt Ana Knez aus Laško, als wäre das der natürliche Lauf der Geschichte, nach dem man besser nicht fragt. In Slowenien immer noch ein Tabuthema.

Zwischen den Fronten

Umso notwendiger ist Pollacks Buch, für beide Seiten. Eingebettet in die Verwerfungen der beiden Volksgruppen steht die private Familiengeschichte: Die Frau ohne Grab ist die beeindruckende Erzählung vom Schicksal einer Frau, die gänzlich ohne ihr Zutun zwischen die Fronten der Geschichte geraten ist, eine ebenso intime wie politische Spurensuche, Zeit- und Milieuschilderung. Vor allem aber große Literatur.

Am Ende verabschiedet sich der Erzähler mit einem literarischen Bild: Als er im Vorjahr noch einmal zur Recherche in Laško war, hat er all die Tage einen Graureiher beobachtet, der auf einem Felsen in der Savinja auf Fische lauerte. Am letzten Morgen sieht er, wie der Reiher plötzlich ins Wasser stößt und sich blitzschnell einen Fisch holt.

Andere Autoren erfinden solche Bilder, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Nicht Martin Pollack, den man als genauen Beobachter kennt. Derselbe Reiher ist plötzlich wieder da, als wir am Abend des zweiten Tages auf einer Terrasse am anderen Ufer sitzen. Diesmal steht er näher an der Brücke und wartet dort. (Gerhard Zeillinger, 11.8.2019)