Das Wohlergehen von Kindern muss ganz oben auf der politischen Agenda stehen.

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Im Gastkommentar führt Birgit Schatz, Kinderrechtsbeauftragte von SOS-Kinderdorf, die Debatte um die Sicherheit von Kindern nach einer tragischen Unfallserie fort.

Hans Rauscher sieht in der Freiheit des Einzelnen die Chance auf Selbstverwirklichung und Erfolg. Verantwortlich für das entsprechende Gelingen ist das Individuum. Umgelegt auf das Thema Elternschaft bedeutet der liberale Zugang, Eltern haben das Recht und die Pflicht, vollumfänglich für ihr Kind und sein Wohl zu sorgen (siehe "Keine Kindersicherung im Kopf"). Nur: Heutzutage ist das kaum mehr möglich. Die Berufstätigkeit beider Elternteile erfordert, die Verantwortung zu delegieren, an die Kinderbetreuungseinrichtung, die Nanny oder auch die Schule. In den Ferien kommt noch ein buntes Konglomerat an Sportvereinen oder (Leih-)Omas dazu.

Fakt ist, dass viele Mütter und Väter die Anforderungen an moderne, liberale Elternschaft kaum stemmen. Einer SOS-Kinderdorf-Studie zufolge stehen rund 80 Prozent aller Familien unter teils enormem Druck. Diesen Eltern auszurichten, sich doch bitte endlich ihrer Verantwortung bewusster zu werden, geht in den meisten Fällen am Problem vorbei.

Beschämende Kinderarmut

Zu diskutieren wäre vielmehr, wie Österreich ein kinder- und familienfreundliches Land werden kann. Und zu diskutieren wäre weiters, wie wir die von Rauscher geforderte "Kindersicherung im Kopf" in unserer Gesellschaft verankern können – gerade im Vorfeld einer Nationalratswahl.

Welchen Stellenwert haben Kinder und ihr Wohlergehen? Die Kinderarmut in Österreich ist beschämend. Der Familienbonus bringt wohlhabenden Familien mehr als jenen, die finanziell kaum über die Runden kommen, die Mindestsicherung sinkt proportional, je mehr Kinder in einer Familie leben. Das Bildungssystem manifestiert die gesellschaftliche Stellung. Die liberale Selbstverwirklichung ist ein Elitenprivileg.

Gesetze und deren Auswirkungen

Neue Gesetze müssen zwar bezüglich ihrer Auswirkungen auf Kinder- und Jugendliche überprüft werden, die Qualität dieser Überprüfung ist aber beschämend. So wurde erst jüngst bei einer massiven Veränderung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe "keine Auswirkung" auf Kinder und Jugendliche konstatiert. Welche massive Belastung Zwölfstundentage für Familien darstellen, ist jedem bewusst, der über wirtschaftliche Sphären hinaus denkt.

Analysiert man, welche Interessen den größten Einfluss auf Politik und Verwaltung oder auch das gesellschaftliche Zusammenleben haben, wird schnell klar, das Wohlergehen von Kindern steht nicht ganz oben auf der Agenda. Vor 30 Jahren verabschiedete die UN-Vollversammlung die Kinderrechtskonvention, die auch Österreich unterzeichnet hat. Wäre dieses Jubiläum nicht ein guter Anlass, die Situation von Kindern in unserem Land kritisch unter die Lupe zu nehmen und ein neues Paradigma der Kinderrechte und -freundlichkeit zu etablieren? Breitere Gehsteige und Radwege, weniger Parkplätze? 30 km/h im Ortsgebiet statt 140 auf der Autobahn? Mehr Urlaubsanspruch für Eltern schulpflichtiger Kinder? Vetomöglichkeit einer Bundeskinder- und Jugendanwaltschaft gegen kindeswohl- und kindeszukunftsgefährdende Gesetzesvorhaben?

Es geht nicht nur um die Vermeidung des gefährlichen Augenblicks im Leben eines Kindes, es geht um die geteilte Verantwortung, die wir alle für jedes Kind haben und wahrnehmen sollten. Es geht um eine "Kinderzukunftssicherung im Kopf". Und es geht darum, das auch von der Politik einzufordern. Für Mütter und Väter allein ist das nicht zu schaffen. (Birgit Schatz, 12.8.2019)