Lisa Haderer kommt aus der Pflege. Worauf sie stets achtet: den Augenkontakt, denn das schafft Beziehung.

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STANDARD: In Niederösterreich gibt es 110 Pflege- und Seniorenhäuser – wie viele davon haben Sie und Ihr Team schon von innen gesehen?

Haderer: Ich leite seit zweieinhalb Jahren das Team der Pflegeanwaltschaft in Niederösterreich, in dieser Zeit waren wir in etwa 90 Einrichtungen. Wir machen sowohl angemeldete als auch unangemeldete Besuche. Letztere sind meist anlassbezogen. Unser Anliegen ist es, alle Häuser von innen zu sehen, die Mitarbeiter und Führungskräfte kennenzulernen und mit dem Personal vor Ort einen fachlichen Austausch auf Augenhöhe zu führen. Wir fragen auch bei den Bewohnern nach, wie es ihnen geht, ob sie sich wohlfühlen, wie sie ihren Tag verbringen oder wie sie ihn gerne verbringen würden. Wir schauen, wie viel von der Qualität aus dem Hochglanzprospekt auch bei den Menschen ankommt.

STANDARD: Was sind die häufigsten Beschwerden?

Haderer: Meistens sind es Missverständnisse, weil die Kommunikation zwischen Angehörigen und dem Personal nicht funktioniert. Oder es gibt keine geeigneten Ansprechpartner vor Ort – beispielsweise weil den Angehörigen nicht gesagt wurde, an wen sie sich wenden können. Selten sind es tatsächliche Missstände. Unlängst hat uns eine Angehörige angerufen, deren Mutter seit zwei Wochen nicht das Zimmer verlassen durfte. Wir fahren dann zeitnah zur Einrichtung, um dem Vorwurf nachzugehen. Die Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung gaben offen zu, dass sie mit der Frau überfordert waren und die Dame deshalb nicht im Aufenthaltsbereich lassen wollten. Die Frau hatte eine gerontopsychiatrische Verhaltensstörung, mit der das Personal nicht zurande kam. Grundsätzlich zeigen wir den Mitarbeitern in solchen Fällen auf, welche Sofortmaßnahmen zu ergreifen sind. Besteht Gefahr in Verzug, informieren wir die Pflegeaufsicht.

STANDARD: Wie läuft so ein Besuch ab?

Haderer: Am Anfang steht ein erstes Gespräch, dann folgen eine Hausführung und vertrauliche Gespräche mit Mitarbeitern und Bewohnern. Den Abschluss bildet ein Feedback-Gespräch, in dem wir jene Dinge ansprechen, die uns aufgefallen sind. Wir geben an die Leitung Empfehlungen ab, wo wir Handlungsbedarf sehen. Oft sind es Kleinigkeiten, die Großes bewirken. Wenn etwa überall Wägen mit benutzter Wäsche und weggeworfenen Inkontinenzprodukten herumstehen und Defibrillatoren an den Wänden hängen, wird sich bei den Bewohnern kein Zuhausegefühl einstellen. Oder eine Dame mit einseitiger Lähmung sitzt den ganzen Tag mit dem Rücken zum Fenster im Speisesaal und blickt auf das Servierwagerl mit dreckigem Geschirr. Wieso wird die Bewohnerin nicht umgedreht, damit sie in den Garten hinausschauen kann?

STANDARD: Prüfen Sie nach, ob Ihre Empfehlungen umgesetzt wurden?

Haderer: Ja, das sind sogenannte Evaluierungsbesuche. Innerhalb einer gewissen Frist bitten wir um eine Stellungnahme der Hausleitung und prüfen dann, ob alles erfüllt wurde, was die Einrichtung verbessern wollte.

STANDARD: Sie haben bei einer Diskussion des Berufsverbands der Psychologen einmal gesagt, dass Sie versuchen, "unter den Eisberg zu blicken". Was ist der Eisberg, und wie sieht es darunter aus?

Haderer: Der Eisberg ist das, was man schnell einmal sieht. In manchen Häusern ist es auch im Sommer so kalt, dass man denkt, man erfriert – und das liegt nicht an den Temperaturen. Wir versuchen auch den Taucheranzug anzuziehen und runterzutauchen, um etwa dieser emotionalen Kälte auf den Grund zu gehen. Warum schreien sich beispielsweise die Mitarbeiter über den Gang zu? Warum ist die Stimmung so schlecht? Warum sind hier in der Früh mehr Pfleger als Bewohner unterwegs?

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass Pflege mehr Kontrolle braucht?

Haderer: Mehr Kontrolle braucht es aus meiner Sicht nicht. Wir verstehen uns auch weniger als Kontrollorgan, sondern als eine Art externes Qualitätsmanagement. Aus meiner Zeit, in der ich noch aktiv in der Pflege gearbeitet habe, weiß ich: Wenn die Bedingungen passen, dann arbeiten die Menschen fachlich und menschlich gut. Problematisch wird es dann, wenn das Arbeitspensum in einem so kleinen Zeitrahmen zu verrichten ist, dass Fehler passieren oder die Individualität zu kurz kommt.

STANDARD: Ist der Personalschlüssel der wichtigste Faktor für gute Pflege?

Haderer: Der Personalschlüssel ist zwar ein relevantes Thema, aber nicht das einzige. Auch in Häusern, die personell gut aufgestellt sind, kann es sein, dass die Bewohner sich dem System komplett unterordnen müssen, weil das Personal Abläufe hat, die es streng nach System ausführt. Probleme entstehen meist nicht zwischen den Personen, sondern durch die Strukturen, innerhalb deren sie miteinander auskommen müssen.

STANDARD: Welche Strukturen sind das?

Haderer: Etwa fixe Badelisten, dass bis elf Uhr vormittags alle gebadet sein müssen. Die Bewohner werden in ein Schema gepresst, das vielleicht gar nicht zu ihnen passt. Früher wurden Pflegeheime oft wie Ersatzkrankenhäuser geführt, als fleißigste Schwester galt die, welche die meisten Personen gewaschen hat. Von solchen Strukturen bewegen wir uns zum Glück immer weiter weg, hin zu einem Normalitätsprinzip. Wenn ein Bewohner um 14 Uhr baden will, sollte ihm das auch ermöglicht werden. Das bedeutet auch, sich mit der Biografie der Menschen zu beschäftigen: Was zeichnet den Menschen aus, was ist ihm wichtig, was war ihm wichtig, wie will er seinen Tag gestalten? Daran sollte man sich orientieren.

STANDARD: Dazu braucht es aber mehr Personal.

Haderer: Nicht unbedingt. Mittlerweile gibt es Häuser, in denen gestaffelte Dienstzeiten oder verschiedene Dienstzeiten in der Früh und am Abend die Regel sind. So kann sich das Personal spezifischer an die Bewohner anpassen. Durch die Flexibilität stellt sich die Effizienz von selbst ein. Dazu braucht es aber auch eine Hausleitung, die solche Strukturen ermöglicht.

STANDARD: Woran erkennt man ein gutes Pflege- und Seniorenhaus?

Haderer: In engagierten Pflegeeinrichtungen kommt jemand aus dem Führungsteam zu den alten Menschen nach Hause und stellt sich vor. Das schafft Vertrauen. Beim Besichtigen der Einrichtung sollte man darauf achten, ob es zu authentischen Begegnungen kommt oder ob mir hier nur eine Show geboten wird. Gibt es Augenkontakt mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, werde ich gegrüßt, oder habe ich eher das Gefühl, ein Störfaktor zu sein? Ganz wichtig ist ein aufrichtiger Austausch. Man muss auch unbequeme Fragen stellen dürfen. Für manche Angehörige ist es oft sehr schwierig, wenn ihre Verwandten ins Pflegeheim kommen. Von einem Tag auf den anderen werden sie nicht mehr gebraucht und dürfen nicht mehr helfen. Die Einrichtungen müssen hier auf die Angehörigen eingehen und ihnen Anerkennung entgegenbringen, damit es nicht zu Misstrauen und Missverständnissen kommt. Das heißt auch: Sie müssen in die Pflege miteinbezogen werden.

STANDARD: Viele Menschen haben Angst, ihren Lebensabend in einer Pflegeeinrichtung verbringen zu müssen. Was muss sich ändern, damit diese Angst kleiner wird?

Haderer: Die Bereitschaft, die Effizienz nicht über alles zu stellen. Denn rein effizienzbasierte Pflege ist ein schwerer Fehler. Wir müssen außerdem weg vom Konzept des "Heims". Pflegeeinrichtungen werden sich zu Kompetenzzentren entwickeln, in denen niederschwellig und unkompliziert auch Workshops vor Ort angeboten werden. Zum Beispiel für Angehörige, die Fragen bei der Pflege zu Hause haben – etwa wie man jemanden rückenschonend mobilisieren kann. Dort arbeiten verschiedene Professionen: Wenn es neben der Pflege auch noch Ergo- und Physiotherapeuten sowie Sozialarbeiter gibt, hat das gleich eine andere Qualität. Die verschiedenen Professionen haben unterschiedliche Herangehensweisen, diese Mischung würde allen guttun. Diese Pflege- und Betreuungszentren sind in verschiedene Zonen eingeteilt, zwischen denen die Bewohner frei wählen können. Es gibt öffentliche Bereiche wie etwa Kaffeehäuser, die für alle frei zugänglich sind, halböffentliche Bereiche wie den Gemeinschaftsraum und private Bereiche, also das eigene Zimmer, in das man sich immer zurückziehen kann. Je mehr Wahlmöglichkeiten jemand hat, desto eher hat er ein Gefühl der Autonomie. Und wenn ich selbstbestimmt handeln kann, brauche ich mich nicht zu fürchten. (Günther Brandstetter, Katharina Janecek, CURE, 25.9.2019)