Jayrôme Robinet bringt das Thema Transgender vor den Vorhang. Die Geschichte seiner Identitätsfindung ist ein Plädoyer gegen Borniertheit.

Foto: Ali Ghandtschi

Es gibt Lebenssituationen, die für die Mehrheit der Menschen ziemlich schwer vorstellbar sind. Zum Beispiel das Gefühl, sich fremd im eigenen Körper zu fühlen. Wer wissen will, wie sich das anfühlt, sollte in Jayrôme Robinets Buch "Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund" nachlesen.

Es ist ein fremdes, ein aufregendes, ein horizonterweiterndes Buch darüber, wie sich Transgender im täglichen Leben anfühlt. Es geht um Robinet selbst, aber auch um die große Vielfalt der Transgender-Leute, also um "Menschen, die die kulturellen Geschlechtergrenzen überschreiten", mit denen er zu tun hat.

Für alle, die in einem klassischen Mutter-Vater-Kind-Narrativ aufgewachsen sind (also die Mehrheit), ist die Lektüre ein Abenteuer und gar nicht so einfach nachvollziehbar. Robinet bietet Einblick in seine Welt, und es gelingt ihm, Bewusstsein für Probleme zu schaffen, an die viele noch nie auch nur einen Gedanken verschwendet haben.

Die richtige Frage

Eine Frau, die ein Mann sein will, ein Mann, der sich als Frau fühlt? Oder all jene, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen? Wie leben Transgender-Menschen, wie und wen lieben sie, und ist das überhaupt die richtige Frage?

Es seien in erster Linie die komplette Unsicherheit und ein Nichtverstehen, die beim Großteil der Menschen erst einmal eine Abwehrhaltung erzeugten, ortet auch Robinet das Problem und kämpft für eine liberale Gesellschaft, die sich durch ihren toleranten Umgang mit Minderheiten jeder Art charakterisiert.

Wer über den eigenen Tellerrand hinaussehen will, hat mit Jayrôme Robinet einen ziemlich guten Pfadfinder. Seine Biografie ist kurzweilig, humorvoll und in ihrer Emotionalität wirklich überraschend.

Seine Mädchenjahre

Sein Leben im Kurzdurchlauf: Robinet ist Franzose, wurde ursprünglich als Mädchen geboren und wuchs in einem kleinbürgerlichen Umfeld in Nordfrankreich als Céline auf. Erst in der Pubertät entdeckte er, dass irgendetwas in seinem Empfinden der Umwelt gegenüber anders war. Nach einer langen depressiven Phase und vielen Versuchen, seinem Unglück zu entkommen, erkannte er eines Tages den eigentlichen Grund seiner Probleme.

Jayrôme verließ sein Elternhaus, übersiedelt nach Berlin und lernte Leute aus der Transgender-Community kennen, die sich mit ähnlichen Problemen wie er selbst herumschlugen. Das erzeugte ein Zugehörigkeitsgefühl. Es sollte allerdings noch viele Jahre dauern, bis er sich zu einer Hormonbehandlung entschloss.

Erniedrigende Erlebnisse

"Mit 38 Jahren war ich schließlich in der Pubertät", schreibt er anlässlich seiner Entscheidung, sich Testosteron spritzen zu lassen. Der Weg dorthin war viele Jahre mit vielen für ihn erniedrigenden Erlebnissen gepflastert. Nicht nur Otto Normalverbraucher, auch Ärzte, Psychiater und Behörden waren mit Robinets Existenz überfordert, als er in einem ersten Schritt erst einmal seinen Namen änderte.

Robinet musste erst lernen, Körpersprache und Mimik seiner neuen Geschlechtsidentität anzupassen.
Foto: Ali Ghandtschi

Was ihn – zumindest als Protagonist seines Buches – zum Helden macht, ist sein entspannter und geduldiger Umgang mit den vielen An- und Übergriffen, denen er ausgesetzt war und ist. "Ich selbst habe Jahrzehnte für die Umorientierung meines Geschlechts gebraucht, ich kann von meiner Umwelt nicht verlangen, dass sie in einer mikroskopischen Sekunde erfasst, wer ich bin", schreibt er. Er habe das Buch unter anderem auch deshalb geschrieben, um sich selbst besser begreifen zu können.

Die Wirkung von Testosteron

Er geht mit großer Offenheit an die Sache heran, intime Einblicke inklusive. Robinet lässt sich Testosteron als Depot in den Gesäßmuskel spritzen und schaut sich bei seinem "Passing" im Spiegel zu. Es wächst ihm ein Bart, die Haare am Kopf werden weniger, auch die Fettdepots in seinem Körper verschieben sich, der Schädel wird kantig. Diese Passagen sind auch medizinisch ziemlich aufschlussreich, weil sie die Macht der Hormone sehr unmittelbar beschreiben.

Noch viel drastischer für ihn ist die Art, wie die Menschen auf ihn reagieren. Die Frage, ob er sich habe umoperieren lassen, empfindet er als übergriffig ("ich frage doch auch nicht Schwanzlängen ab"), und die Frage, ob er denn nun trans oder schwul ist, führt ihm regelmäßig die Ignoranz der Gesellschaft vor Augen.

Er hat sich für diese Situationen einen sehr paradoxen Satz zurechtgelegt, der sein Gefühl in eine Analogie gießt: "Fährst du lieber mit dem Zug oder nach Barcelona? Antwort egal: Hauptsache Italien." Jayrôme Robinets Buch bietet also auch Aufklärung für alle, die korrekt mit Transgender-Personen umgehen wollen.

Völlig unabhängig

Dass das Geschlecht an sich eine Frage der persönlichen Identität ist und dabei vollkommen unabhängig von der geschlechtlichen Orientierung bleibt, ist eine der großen Erkenntnisse dieses Buches. Robinet stellt die Berliner Transgender-Szene vor: Da gibt es Transgender-Frauen, die lesbisch sind oder auch nicht.

Es gibt Cis-Männer, die homosexuell oder bisexuell sind, und es gibt Robinet, der zwar als Mann lebt, aber auch keinen Penis will. Vor allem lernen Leser und Leserinnen in diesem Buch eine Reihe von ganz neuen Worten (siehe Glossar) und damit auch Lebenswirklichkeiten kennen.

Sprache schafft Realität, ist Robinet überzeugt – und schlägt mit seinem Buch auch eine Bresche für Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, sogenannte non-binäre Menschen, die sich der geschlechtlichen Dualität dadurch entziehen, dass sie sich weder als Männer noch als Frauen fühlen und deshalb eigene Identitäten finden. Robinets Freund zum Beispiel will als "siehr" angesprochen werden.

Eingefahrene Rollen

Robinets Biografie ist aber nicht nur die Beschreibung einer Minderheit, sondern darüber hinaus für alle relevant. Seine geschlechtliche Transformation entblößt nämlich eingefahrene Geschlechterrollen, derer sich die Mehrheit der Menschen sicherlich nicht bewusst ist.

Robinet, einst ein glutäugiges, hübsches, dunkelhaariges Mädchen, wird durch das Testosteron von seinen Mitmenschen plötzlich als junger Mann mit Migrationshintergrund wahrgenommen. Eine Hotelrezeptionistin behandelt ihn schlecht, obwohl er sich freundlich wähnt, eine Kellnerin fürchtet sich vor ihm, weil sie ihn für einen Terroristen hält.

Robinet erkennt, dass Männer nicht lachen dürfen oder jemandem nicht zu lange in die Augen schauen sollten. Frauen werten es als Zeichen von Flirten, Männer interpretieren es als Aggressivität. Robinet beschreibt, wie er erst stehen, gehen und reden lernen muss. Und wie schwierig es für einen Transgender-Mann ist, auf die Toilette zu gehen. Nach der Lektüre dieses Buches ist ganz klar, dass es unbedingt öffentliche Uni-Sex-Toiletten geben muss.

Als Trans-Mann feministisch

Robinet erkennt aber auch, welcher Druck auf Männern lastet, was ihm, als er als Frau lebte, nie in den Sinn gekommen wäre. "Mein Wunsch danach, wie ein Mann behandelt zu werden, ist schwer vereinbar mit meiner Einstellung zum Patriarchat", schreibt er selbstkritisch. Und genau diese Ambivalenz ist auch die große Stärke dieser Biografie.

Robinet erzählt nicht einfach nur sein persönliches Schicksal, sondern liefert den weltanschaulichen Überbau immer mit. Er zitiert alle wichtigen Denkerinnen und Denker, die sich mit den Fragen der Geschlechterrollen auseinandergesetzt haben, liefert damit die Grundlage, die die LGBTQ-Bewegung überhaupt erst ins Rollen gebracht hat, und klärt seine eigene Position.

Damit setzt sich Jayrôme mit seinem Buch auch selbst in die Rolle des Aufklärers, der dafür kämpft, das Leben von Transgender-Personen einfacher zu machen, etwa durch Gesetzesvereinfachungen oder den Abbau bürokratischer Hürden. Transsexualität ist keine Krankheit, das ist eigentlich die wichtigste Message, und Transgender-Leute sind nur eine Minderheit und keine Gefahr, die man durch bürokratische Hürden bannen müsste.

Robinets großes erzählerisches Plus: kein erhobener Zeigefinger, sondern immer wieder auch Selbstironie, Humor und große Emotionalität. Lesen kann Abenteuer im Kopf sein. Nach der Lektüre hat sich unter Umständen auch der eigene Blick auf Gender und Sexualität gewandelt. (Karin Pollack, CURE, 13.10.2019)