Einen halben Tag lang trugen die Pariser ihren Helden auf Händen über die Boulevards und ließen ihn hochleben. Es muss ein erhebendes Gefühl für den schmächtigen Brasilianer gewesen sein, als ihm die Menge an diesem 12. November 1906 zujubelte. Nur wenige Stunden davor war es Alberto Santos-Dumont mit seinem motorisierten Flugzeug "14 Bis" gelungen, 220 Meter in 21,5 Sekunden zu fliegen und sicher zu landen.

Eine Weltpremiere und -sensation, die zum ersten Mal auch auf Film festgehalten wurde. Und ein Höhepunkt seines Strebens. Doch für den "homo volaticus", wie ihn der französische Zeithistoriker Pierre Blay nennt, war dies nur ein weiterer Ansporn. Er war, so wie viele seiner Zeitgenossen, von der Fliegerei besessen.

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Alberto Santos-Dumont in einem seiner Fluggeräte: Der Erfinder regte Cartier zum Bau der ersten Fliegeruhr an.
Foto: Getty Images/Bettmann

Beschleunigter Alltag

Seit 1892 lebte der Luftfahrtpionier und Erfinder, wohlhabender Abkömmling einer portugiesischstämmigen Mutter und eines französischen Vaters, schon in Paris. Denn die Seine-Metropole war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Zentrum einer hochdynamischen Zeit, getragen von der zweiten Welle der Industriellen Revolution. Und fraglos die Wiege der modernen Fliegerei der späten Belle Époque, in der die Welt in Bewegung zu geraten schien.

Telefonie, elektrisches Licht, Verbrennungsmotoren beschleunigten den Alltag zu jener Zeit in einem nie gekannten Ausmaß. Die Menschen waren fasziniert von den Möglichkeiten, die sich nicht zuletzt durch die wundersamen fliegenden Kisten auftaten.

Klingende Namen

Allen voran die Mitglieder der High Society. Banker, Industrielle, Adelige, Erfinder, Abenteurer, Geschäftsleute trafen sich im Aéro-Club de France. Darunter Männer mit heute noch so klingenden Nachnamen wie Vuitton, Michelin, Peugeot, Hennessy oder Cartier. Letzterer, Louis Cartier, der gemeinsam mit seinem Vater der Juweliersdynastie Cartier vorstand, war vom technischen Fortschritt begeistert. Cartier und Santos-Dumont, selbstverständlich auch Clubmitglied, freundeten sich an.

Möglicherweise war Cartier von der Art des Brasilianers entzückt, dem man ein gewisses Maß an Schrulligkeit nicht absprechen konnte: Manchmal flog er mit einem Ballon über der Stadt herum, um Freunde oder das Maxim zu besuchen. Er band das Luftgefährt dann kurzerhand an einen Baum, um es zu parken.

Erfrischend exzentrisch

Star-Architekt Norman Foster wiederum schreibt, Santos-Dumont sei geradezu "erfrischend exzentrisch" gewesen: Um seinen Gästen das Speisen in luftiger Höhe nahezubringen, ließ er Tisch und Sessel an der Decke seiner Wohnung befestigen. Als der Plafond daraufhin herunterfiel, beauftragte er unbeirrt den Bau extrahoher Möbel – die Diener mussten das Essen über eine Leiter servieren. Dabei schien ihm das soziale Leben zuwider gewesen zu sein: "Ich fliege, um der Gesellschaft zu entfliehen und nachdenken zu können."

Alberto Santos-Dumont konzipierte 22 Flugmaschinen – darunter das erste Sportflugzeug der Welt, die "Demoiselle" -, meldete zahlreiche Patente an, riskierte bei Testflügen sein Leben, spendete seine Preisgelder den Armen und erfand einen neuen Kleidungsstil: Er trug eine Schutzbrille und ein maßgeschneidertes Jackett, das über ein Kabel mit dem Steuerruder seines Flugzeugs verbunden war. Sein Stil war von Funktionalität und Komfort geprägt, beides Merkmale, die einem gepflegten Auftreten nicht entgegenstanden.

Santos-Dumont hatte so seine Schrullen: Er beauftragte den Bau extrahoher Möbel – die Diener mussten das Essen über eine Leiter servieren.
Foto: Cartier

Neue Ästhetik

Funktionalität muss auch das Stichwort gewesen sein, als er seinem Freund Louis klagte, wie beschwerlich es doch sei, während des Fliegens die Zeit abzulesen. Er müsse seine Taschenuhr dafür immer umständlich aus seiner Jackentasche nesteln, beschwerte sich der Flugpionier wohl. Kurzerhand kreierte Cartier für ihn 1904 einen Zeitmesser. Die erste Fliegeruhr der Welt: Wir verdanken sie also einer Männerfreundschaft. Um es noch weiter zu fassen: Wir verdanken ihr die Armbanduhr für Männer. Denn bevor es Fliegeruhren gab, war jene den Frauen überlassen. Mann hatte Taschenuhr zu tragen.

Später ging daraus die Kollektion "Santos de Cartier" hervor, die der Uhren- und Schmuckgigant bis heute immer wieder aktualisiert auflegt – ohne allerdings an der Grundform des Zeitmessers zu rütteln. Sie sieht zunächst ganz anders aus wie die Fliegeruhren, die wir heute kennen. Die "Santos" war sowohl ein Kind ihrer Zeit als auch zukunftsweisend: ein quadratisches Zifferblatt, sichtbare Schrauben und ein Armband, das sich optimal anschmiegt und die Bewegungsfreiheit des Handgelenks nicht einschränkt.

Diskreter Tester

Die quadratische Form brach mit dem runden Gehäuse der Taschenuhren. Sie ist als Reminiszenz an die zur damaligen Zeit in Paris beliebte geometrische Ästhetik zu begreifen – und steht auch als Symbol für die Revolution des Designs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch die Ästhetik wurde im Fin de Siècle neu gedacht.

Die Santos war robust konstruiert, trug römische Ziffern, hatte zwei Zeiger und eine griffige Krone, um sie auch mit Handschuhen bedienen zu können – Eigenschaften, die im Wesentlichen noch heute diese Uhrengattung auszeichnen. 1911 wurde die Santos auch der – wohlhabenden – Öffentlichkeit zugänglich, nachdem sie ihrem exklusiven Träger und diskreten Tester jahrelang gute Dienste geleistet hatte. Wer sich für modisch hielt, musste eine Santos haben. Überhaupt war der elegant-funktionale Stil von Santos-Dumont eine Zeit lang à la mode.

Hauch von Abenteuer

Was die Fliegeruhr betrifft, so leisteten ihrer Popularität und Weiterentwicklung auch Pioniere wie Charles Lindbergh, der 1927 den Atlantik im Alleinflug überquerte, Vorschub. Er bestimmte seine Position mit dem Tachometer seines Flugzeugs, einem Kompass und seiner Taschenuhr. Gemeinsam mit Longines entwarf er einen speziellen Zeitmesser, die "Lindbergh-Uhr".

Von diesem Hauch von Abenteuer und Pioniergeist, der sie umweht, profitiert die Fliegeruhr bis heute – und deren Hersteller. So lässt IWC Schaffhausen gerade eine restaurierte Spitfire rund um die Welt fliegen, während Breitling mit dem beliebten Navitimer immer wieder an seine aviatische Tradition anknüpft. Daneben tummeln sich zahlreiche andere größere und kleinere Hersteller und Marken, die Modelle in der Ästhetik und der Funktionalität einer Fliegeruhr anbieten.

Im Schatten

Das Flugzeug (wie auch die Fliegeruhr) verdankte seinen "Durchbruch" schließlich den Weltkriegen. Eine Tatsache, die Alberto Santos-Dumont mehr als betrübte. Er wollte seine "Kinder" immer nur zum Wohl der Menschheit fliegen sehen. Manche Quellen gehen davon aus, dass dies seine Depression beschleunigt habe, was 1932 zu seinem Selbstmord in Brasilien führte, wohin er sich zurückgezogen hatte.

Dort wird er nach wie vor als "Vater der Luftfahrt" verehrt, während er sonst im Westen weitgehend im Schatten anderer Pioniere wie den Gebrüdern Wright oder eben Charles Lindbergh steht. (Markus Böhm, RONDO, X.8.2019)

Eine Skizze der Santos de Cartier aus dem Jahr 1911.
Foto: Archives Cartier
Aktuelle Interpretation der ersten Fliegeruhr: Santos de Cartier Noctambule Skelettiert.
Foto: Hersteller
Hamilton liefert mit der Khaki Pilot Pioneer Mechanical eine Neuinterpretation der W10, die in den 1970er-Jahren für die Royal Airforce hergestellt wurde.
Foto: Hamilton
Für die Big Crown ProPilot X Calibre 115 übernahmen die Uhrmacher von Oris das hauseigene Calibre 110 und stellten ein vollständig skelettiertes Uhrwerk vor.
Foto: Oris
Für Piloten, die ihre Uhr auf dem rechten Handgelenk tragen: IWC Big Pilot "Right-hander".
Foto: Hersteller
Ein Dauerbrenner aus dem Hause Breitling: der Navitimer mit Rechenschieberlünette.
Foto: Hersteller
Einen Fliegerchrono hat Hanhart mit dem Primus Nautic Pilot im Portfolio, hier in Bronze.
Foto: Hersteller