Foto: Piper

Zwei Menschen, die einander noch nie begegnet sind, werden durch ein Foto zusammengebracht, auf dem sie gemeinsam zu sehen sind – offensichtlich auf der Flucht, mit einem Baby obendrein. Und als wäre das noch nicht seltsam genug, ist das Foto auf ein Jahr in der Zukunft datiert. Schon stecken sie und wir mitten in einem Thriller, der sich um eine internationale Verschwörung, Hacking, die totale Überwachung und letztlich die Weltherrschaft dreht.

Die Hauptfiguren

Die eine Hälfte des Hauptfigurenduos ist die 26-jährige Studentin Brit Kuttner aus dem Berlin der Gegenwart. Sie weist eine dissoziative Störung auf (es würde ihr nicht gerecht, zu sagen, sie "leidet darunter"), die ihr einen ganz eigenen Blick auf die Welt ermöglicht. Um die Reaktionen und Gefühle anderer zu verstehen, muss sie deren Gesichtsausdrücke bewusst mit dem gespeicherten Repertoire bisheriger Erfahrungen abgleichen. Selbst tut sie sich mit Emotionen schwer – zumindest in den üblicherweise damit verbundenen Situationen. Dafür schüttet sie Glückshormone aus, wenn sie einen tiefgründigen Satz hört.

Die andere Hälfte ist der palästinensisch-deutsche Uni-Dozent Khaled Jafaar. Er arbeitet in Münster, ist 33 – und glücklich verheiratet. Das scheint der Mystery-typischen Verpaarungstendenz der Hauptfiguren ebenso entgegenzustehen wie Brits etwas spezielle Persönlichkeit, aber man wird sehen.

Los geht's

Weil in "Earth" Tempo alles ist, ist der Einstieg in den Roman für die beiden zugleich ein Einschnitt. Brit begegnet einem jungen Mann, der ihr die mysteriösen Worte "Du gehörst zu uns" zuraunt und kurz danach totgefahren wird. In seiner Tasche hatte er besagtes Foto – und da ihre Mutter praktischerweise ausgerechnet beim Bundeskriminalamt arbeitet, kann sich Brit heimlich Zugang zur Akte des Falls verschaffen. So erfährt sie nicht nur, dass der Mann auf dem Foto Khaled Jafaar ist, sondern auch, dass der Tote zu Earth gehörte, einer Gruppe von Netzaktivisten nach dem Vorbild von Anonymous.

Khaled indes wird nach Jahrzehnten der Funkstille überraschend von seinem Vater Ben kontaktiert und reist zu ihm nach Gaza. Dort muss er feststellen, dass sein Vater verschwunden ist – und wir erfahren, dass Ben Jafaar einst der Gründer von Earth war. Kurz darauf treffen Brit und Khaled unter buchstäblich explosiven Umständen zusammen, und der Kampf beginnt. Auf der einen Seite die wackeren Hacktivisten von Earth, die durch eine perfide Intrige als Terroristen gebrandmarkt werden – auf der anderen Seite das mysteriöse Unternehmen Tantalos, die Bilderberg-Konferenz (ein Liebkind von Verschwörungstheoretikern!) und ein seltsamer "blinder Fleck" im Internet, aus dem angeblich Botschaften aus dem Jahr 2045 eintreffen.

Nur keine Atempause

Der Deutsche Hansjörg Thurn kommt aus der Filmbranche und hat jetzt mit süßen 59 seinen ersten Roman vorgelegt. Der enthält all die typischen Ingredienzen eines Verschwörungsthrillers und nichts wirklich Neues, aber wie gesagt reichlich Tempo. Dass der Plot offensichtlich darauf angelegt ist, möglichst schnell auf Touren zu kommen, äußert sich nicht zuletzt im Handeln der beiden Hauptfiguren. Beide sind äußerst rege – Khaled etwa entwirft so nebenher im Alleingang ein neues soziales Medium – und gehen mit Gefahrensituationen erstaunlich gelassen um. Brit switcht praktisch aus dem Stand von der Wirtschaftsstudentin zur mit allen Wassern gewaschenen Geheimagentin – anscheinend ist Perry Rhodan nicht der einzige Sofortumschalter in der Galaxis.

Ziehe ich das unmittelbar vor "Earth" gelesene "Die Schleife" von Peter Clines – letztlich ja auch ein Verschwörungsthriller – zum Vergleich heran, sehe ich den Hauptunterschied nicht im Plot, sondern darin, dass Clines' Figuren lebendiger und dadurch auch ein Stück sympathischer wirkten. Bei Thurn überwiegt der Kopf das Herz respektive das Szenario die Charaktere – was "Earth" etwas reißbrettartig wirken lässt, eher professionell abgewickelt als auserzählt. Oder schlicht: kühler. Dafür ist "Earth" natürlich ein beträchtliches Stück näher an der Realität dran.

Nach etwas über 300 Seiten mündet der Roman schließlich in eine Art Cliffhanger. Doch keine Angst, dass man da jetzt allzu lange baumeln muss: Teil 2, "Der Widerstand", ist bereits Anfang August erschienen.