Viele Menschen helfen auch, weil sie sich dabei und danach besser fühlen.

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Das Dilemma ist kein neues: Oft möchten wir Menschen in misslichen Lagen unterstützen, doch wem genau lassen wir unsere Hilfe zukommen, wo ziehen wir unsere persönlichen Grenzen? Durch das Wissen um diverse Krisen weltweit mag die Überforderung angesichts zahlreicher Opfer sogar noch wachsen.

Stephan Dickert, Professor für Psychologie und Kognitionsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, beschäftigt sich mit dem Prozess der Entscheidungsfindung. Die Spendenforschung ist eines der Felder, auf denen der deutsche Psychologe analysiert, welche bewussten und unbewussten Mechanismen unsere Handlungen beeinflussen.

"Wenn wir über Klimaziele reden, müsste man eine Belohnungsstruktur schaffen, die langfristig motiviert", sagt Stephan Dickert.
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STANDARD: Wovon hängt es ab, obwir uns zu einer Spende entschließen?

Stephan Dickert: Emotionen sind sehr oft ein zentraler Faktor, wenn nicht gar die Hauptmotivation zum prosozialen Handeln. Und alles, was eine Katastrophe bildlicher, plastischer und leichter zu verstehen macht, kann zu verstärkten emotionalen Reaktionen führen. Das kann in unterschiedliche Richtungen funktionieren, wenn man beispielsweise die Flüchtlingskrise betrachtet: Man kann Bilder von Flüchtlingen zeigen, die Hilfe brauchen, bzw. einzelne Opfer wie Alan Kurdi, den ertrunkenen kleinen Buben an der türkischen Küste. Oder man konzentriert sich etwa auf Opfer von Gewalt, die von Flüchtlingskreisen ausgeht. Der zentrale Faktor ist die Emotion, ob es sich nun um Mitleid, Angst oder Wut handelt.

STANDARD: Sie beschäftigen sich in der Spendenforschung unter anderem mit der Wahrnehmung großer Zahlen. Worum geht es hier genau?

Dickert: Zum einen geht es darum, wie sich die Spendenbereitschaft verändert, wenn viele Menschen betroffen sind, wie das bei größeren Katastrophen der Fall ist. Hier zeigt sich, dass wir Veränderungen in der Anzahl schwächer wahrnehmen, als wenn wenige Menschen betroffen sind. Dies ist eine fundamentale Eigenschaft unserer Wahrnehmung, die schon im 19. Jahrhundert entdeckt wurde.

STANDARD: Was bedeutet das für die Spendenbereitschaft?

Dickert: Man spendet eher, wenn die Katastrophe kleiner ist. Interessant ist auch, wie wir emotional reagieren, wenn die Zahl der Betroffenen steigt. Oft hat eine große Zahl an Opfern eine geringere emotionale Wirkung als ein Einzelschicksal.

STANDARD: Angesichts einer immensen Anzahl an Leidenden erscheint ein kleiner Beitrag vielen als sinnlos.

Dickert: Es gibt viele Szenarien, in denen man effektiv helfen kann, etwa mit einer Kinderpatenschaft. Allerdings ist es auch immer möglich, einen Schritt zurückzugehen und sich zu denken: Ich kann nicht alle unterstützen, im Gesamtgefüge ist mein Beitrag nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dieser Blickwinkel ist demotivierend und bietet die Rechtfertigung, um zu sagen, dass ich dem einzelnen Kind dann ja auch nicht helfen muss. Dieses Phänomen bezeichnet man als Pseudoineffektivität.

STANDARD: Findet Ähnliches nicht auch in Sachen Umweltschutz statt?

Dickert: Es ist ganz leicht zu sagen: Ich kann zwar auf mein Auto verzichten, aber die anderen machen das auch nicht, und mein Beitrag zu weniger CO2-Emissionen wäre sehr gering. Hier geht es um das Klima, also ein Gemeinschaftsgut, für das wir zusammenarbeiten müssen. Wenn dann noch die Ressourcen begrenzt sind, kann es als Individuum unheimlich schwierig sein, sich prosozial zu verhalten.

STANDARD: Wie könnte man sich selbst aus psychologischer Sicht zum Gegenteil motivieren?

Dickert: Es wird in diesem Fall wahrscheinlich nicht funktionieren, wenn man das eigene Verhalten an ein sofort erkennbares Resultat knüpft, wie wir Menschen das gerne tun. Bei großen Zielen wie einem Abschwächen des Klimawandels kann man individuell meist nur einen relativ kleinen, aber dennoch wichtigen Beitrag leisten. Wenn man unabhängig davon für sich definiert, was moralisch oder für die Gesellschaft besser ist und was schlechter, also nur die Handlung selbst bewertet, könnte man sich vielleicht zur Umsetzung animieren.

STANDARD: In entsprechenden Experimenten kommt es darauf an,ob ein solches Verhalten bestraft wird. Was bedeutet das für die Praxis?

Dickert: In Experimenten zu Gemeinschaftsgütern konnten Verhaltensökonomen tatsächlich zeigen, dass Sanktionen zur Steuerung kurzfristig geeignet sein können.

STANDARD: In der Verhaltensforschung lautet das Credo eher: belohnen statt bestrafen.

Dickert: Als Psychologe betrachte ich das Individuum, und in Bezug auf Lernverhalten wirken Belohnungen oft besser und vor allem langfristiger als Bestrafungen. Wenn wir über Klimaziele reden, müsste man eine Belohnungsstruktur schaffen, die langfristig motiviert. Das könnten ganz klassisch finanzielle Belohnungen sein, wie z. B. Flaschenpfand oder Einsparungen, wenn man Strom aus erneuerbaren Energiequellen bezieht. Ich glaube aber, im Großen und Ganzen brauchen wir mehr als nur finanzielle Anreize. Man müsste sich damit auch auf der Werteebene befassen und die innere Motivation fördern, der Umwelt Gutes zu tun.

STANDARD: Ist uns dabei wichtig, dass wir von anderen Menschen gesehen werden, während wir Gutes tun?

Dickert: Es gibt sicher Menschen, die primär dann helfen, wenn sie ein Publikum haben – und dieses Gesehenwerden führt verstärkt dazu, dass man sich gut fühlt. Die eigene prosoziale Aktion wird dadurch also aufgewertet. Allgemein bezeichnen wir mit dem Begriff des "warm glow" das schöne, warme Gefühl, wenn ich jemandem geholfen habe. Das muss aber nicht mit Publikum zusammenhängen. Viele Menschen helfen auch deshalb, weil sie sich dabei und danach besser fühlen.

STANDARD: Das klingt alles andere als selbstlos. Gibt es puren Altruismus?

Dickert: Das hängt von der Definition ab. Bei purem Altruismus dürfte ich streng genommen keinerlei Positivität aus meiner Tat ziehen. Ich würde zwischen selbstlosen und egoistischen Motiven unterscheiden. In unserer Forschung haben wir gesehen, dass egoistische Motive eher die Bereitschaft beeinflussen, überhaupt prosoziale Handlungen zu tätigen. Selbstlose Motive hingegen beeinflussen tendenziell das Ausmaß der prosozialen Handlung. (Julia Sica, 16.8.2019)