Pianist Norman Shetler und seine Frau Lois fühlen sich in ihrer Wiener Gründerzeitwohnung mehr wie in einem Bauernhof oder in einer Mansardenwohnung irgendwo über den Dächern von Moulin-Rouge-Paris.

"Das Haus wurde 1824 errichtet und beherbergte damals eine Fabrik für K.-u.-k.-Uniformen. Es gibt eine Tafel unten im Stiegenhaus, daher weiß ich das alles. Außerdem gibt es vor unserem Fenster im Dachgeschoß einen riesengroßen Doppeladler, den wir von hinten sehen. Eingezogen sind meine Frau Lois und ich vor ziemlich genau 50 Jahren. Das große Wohnzimmer, in dem wir nun sitzen, war einst das Atelier eines Kunstrestaurators, und nebenan wohnte die damals schon ziemlich betagte Prinzessin Auersperg.

Lois und Norman Shetler inmitten ihres "Sammelsuriums, das noch lange nicht fertig ist".
Foto: Lisi Specht

Zu Beginn haben wir nur einen kleinen Teil gemietet, mit der Zeit kamen nach und nach neue Zimmer dazu. Heute bewohnen wir insgesamt 140 Quadratmeter. Als wir eingezogen sind, war dieser Raum hier in einem freudianischen Bordellrot ausgemalt. Bei aller Liebe zu Wien, aber das war zu viel des Guten! Ich habe mich nach Leere und großen, weißen Räumen gesehnt. Aber dieser Wunsch hat sich zwei, drei Tage nach unserem Einzug – Puff! Zack! Bumm! – in Luft aufgelöst.

Heute wohnen wir in einem Sammelsurium aus Teppichen aus aller Welt, aus Handpuppen, Stoffpferden, Porzellantellern, Holztischen und handbemalten Bauernschränken. Aber wir sind noch lange nicht fertig. Ich bin jetzt 88 Jahre alt, und ich sammle noch immer Dinge. Die Wohnung ist im Werden. Keine Ahnung, wohin das in den nächsten 20 Jahren noch führen wird ...

"Wenn es sein müsste, könnte ich mich von alledem trennen", sagt Norman Shetler über all die Dinge, die er zumeist selbst auf dem Dach eines alten VW-Käfers nach Wien transportiert hat.
Fotos: Lisi Specht

Gefunden haben wir die meisten Sachen für ein paar Lire, ein paar Pfund, ein paar Schillinge in irgendwelchen Ramschläden in Wien, Mödling, Tirol, Florenz, Perugia und London. Das meiste habe ich auf dem Dach meines alten VW-Käfers auf abenteuerlichste Weise nach Wien transportiert. Ich liebe ja Volkskunst! Ich liebe die Farben, die Texturen, die Strukturen, diesen unmittelbaren, ungefilterten Ausdruck von Tradition und Lebenskultur. Allein in den Puppen, die über unseren Köpfen auf den Holzbrettern sitzen, erkennt man so wunderbar den Unterschied zwischen Österreich und Großbritannien. Da lassen sich soziokulturelle Studien erstellen!

Fotos: Lisi Specht

Wir wohnen im neunten Bezirk, aber es fühlt sich an, als wären wir in einer Ort- und Zeitmaschine in einem alten Bauernhaus oder in einer Mansardenwohnung irgendwo über den Dächern von Moulin-Rouge-Paris. Ich finde die Stimmung zutiefst bezaubernd. Alles hat eine Geschichte, alles hier turnt mich an wie nur was! In Summe, könnte man sagen, hat dieser Ort einen gewissen Gänsehautfaktor, was ich sehr schätze, und doch würde ich mich als bescheidenen Menschen bezeichnen. Der Begriff Bescheidenheit wurde für mich förmlich erfunden!

Ich habe auch schon ganz anders gewohnt, und wenn es sein müsste, könnte ich mich von alledem trennen. Lieber wäre es mir natürlich, man würde mit dem ganzen Zeug ein Norman-Shetler-Museum errichten, aber ich bin ja, wie gesagt, ein zutiefst bescheidener Mensch.

Foto: Lisi Specht

Eines will ich noch sagen, denn schließlich bin ich Pianist – und als solchen haben Sie mich um ein Wohngespräch gebeten. Denn für mich schaut eine Wohnung nicht nur aus, sondern hat auch einen Klang! Mich faszinieren Klänge und Geräusche, die die Benützung eines Wohn- oder Stadtraums verursacht. Jahrelang könnte ich zuhören und die Komposition studieren. Das Einzige, was ich überhaupt nicht mag, ist Hintergrundmusik im Restaurant oder im Supermarkt. Am schlimmsten ist Dauerbeschallung mit Klaviermusik. Das halte ich überhaupt nicht aus. Spannende Feststellung, nicht wahr? Sagt das nicht einiges über mich als Pianisten aus?" (Wojciech Czaja, 19.8.2019)