Der Psychoanalytiker Josef Christian Aigner fragt im Gastkommentar: Sagt mir, wo das Christlich-Soziale ist?

Generalsekretär Karl Nehammer hat kürzlich wieder das "christlich-soziale Element" der ÖVP betont. Er nannte dabei das "Menschen- und Familienbild", das sie von den anderen Parteien unterscheide (siehe "Aus Stimmung Stimmen machen"). Woraus aber besteht das ÖVP-"Menschenbild" – außer eher allgemeinen Aussagen, die eigentlich humanitäre Selbstverständlichkeiten sind (siehe Grundsatzprogramm 2015, Seite 9 ff.)? Und das traditionelle Familienbild, das – wenn man es genau liest – dezidiert "Vater, Mutter, Kind" meint, während "andere Formen des Zusammenlebens" akzeptiert, aber offenbar nicht als "Familie" anerkannt werden? Macht diese tendenzielle Abwertung anderer Familienformen ein modernes "christliches" Familienbild aus?

Außer Streit

Ein paar Wochen zuvor gab es heftige Diskussionen um einen Auftritt von Ex-Kanzler Sebastian Kurz bei einem evangelikalen Massenevent, in dessen Rahmen ein vom Drogenkonsum bekehrter und deshalb offenbar als besonders "erleuchtet" geltender Prediger in einem Gebet Kurz über den grünen Klee lobte und Gott dafür pries, dass er uns diesen jungen Mann geschenkt hätte. Abgesehen von der Geschmacklosigkeit solchen Tuns wurde auch hier wieder die Frage laut, inwieweit es sich bei der "neuen" ÖVP mit ihrem messianisch inszenierten Juniorchef wirklich um eine Partei auf der Grundlage "christlich-sozialer Wurzeln" handle.

Dabei erschließt sich mir überhaupt nicht, warum diese Frage nicht längst außer Streit gestellt ist. Auch wenn sich ÖVP-Chefkatholik Andreas Khol, der Erfinder der "Fernstenliebe", die Flüchtlinge vom "christlichen Grundsatz der Nächstenliebe" ausschließt, noch so anstrengt: Das "C" – bei der deutschen Schwesterpartei noch unverhohlen im Parteinamen – hat die schwarz-türkise Politik längst verspielt. Auch die Autoritäten der ÖVP auf Länderebene, die zu allem türkisen Treiben wegen der heldenhaften Wirkung Kurzens auf ihre Länderwahlergebnisse schweigen, haben diesen Anspruch längst verloren.

Ungerechte Reichtums- und Vermögensverteilung

Warum? Einer Handvoll Reicher gehört die halbe Welt, während Milliarden Menschen sich Armut und Not in der anderen Hälfte teilen müssen. Aber auch in Österreich haben wir eine krass ungerechte Reichtums- und Vermögensverteilung mit steigender Tendenz zugunsten Reicher. So besitzt das reichste Zehntel der Österreicher 55,3 Prozent des Gesamtvermögens.

Und was macht Türkis-Schwarz dagegen? Man lässt sich von Wirtschaftsbossen hunderttausende Euros spenden – um dann gegen deren Interessen umzuverteilen? Man setzt Alibi-Familienaktionen, bei denen die ökonomisch Schwächsten wieder leer ausgehen. Man schürt anhaltend unnötige Angst vor Flüchtenden, auch wenn deren Zahl drastisch zurückgeht. Oder man nimmt mit Kürzungen der (ohnehin schon) "Mindestsicherung" Kinderarmut in Kauf.

Unmenschliche Migrationspolitik

Diese "christlich-soziale" Partei kennt offenbar ihre eigenen Basistexte, zu denen wohl auch biblische gehören, nicht. Dort scheinen ganz andere Grundlagen auf: "Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen" (Lk 1, 53). Das hat wohl auch der evangelikale Prediger vergessen, als er dem Herrgott theatralisch für den begnadeten Staatsmann Kurz dankte? Besonders die Kurz'sche Migrationspolitik trägt zutiefst unmenschliche Züge, die nie und nimmer mit der zentralen christlichen Kategorie der Barmherzigkeit vereinbar sind: Sich überheblich zu brüsten, die Balkanroute geschlossen zu haben – die Millionärsrouten aber geöffnet, wie Kritiker meinen -, oder die zynische Haltung gegenüber Seenotrettung im Mittelmeer widersprechen jedwedem Christlichen.

Zwei Männer mit unterschiedlichen Positionen: Sebastian Kurz 2018 bei Papst Franziskus, festgehalten von Kurzens Hoffotograf.
Foto: APA / Dragan Tatic

Im deutlichen Kontrast dazu liegen die Einschätzungen von Papst Franziskus (2015): Für ihn ist die "Flüchtlingskrise" eine "Krise des gegenwärtigen entfesselten Kapitalismus". Als Ursachen von Krieg, Hunger und Flucht nennt er "ein böses, ungerechtes sozioökonomisches System". Auch die Umwelt- und Klimakrise führt er auf solches Unrecht zurück, weil Profitgier und Geld mehr als Menschen zählten: "Das heute herrschende Wirtschaftssystem hat den Menschen an den Rand gedrängt und stattdessen den Gott Geld, das Idol der Stunde, ins Zentrum gerückt."

Das wird die Herzen der Türkis-Schwarzen kaum höherschlagen lassen. Haben doch Ex-ÖVP-Granden wie Wolfgang Schüssel oder Khol den Papst wegen seiner kritischen Worte von der "Wirtschaft, die tötet" schon längst der Naivität – insgeheim wohl der Konversion zum Marxismus – bezichtigt. Es gehört ja heute nicht nur bei der FPÖ, sondern auch bei ÖVP-Funktionären schon zum Tagesgeschäft, Kritiker und Andersdenkende als "Linke" oder Marxisten zu diskreditieren.

Ein Positionsvergleich

Wollte eine Berufung auf christlich-humanistische Grundlagen aber mehr sein als populistisches Gestammel, sollten Kurz und Co sich wieder einmal mit den Botschaften des Jesus von Nazareth beschäftigen. Wie passen dessen Positionen als "Anwalt der Entrechteten", sein Appell für eine "Option für die Armen" mit der herrschenden ÖVP-Politik zusammen? Das sind auch keine Erfindungen einer bösen linken Befreiungstheologie (Was ist denn eigentlich eine "brave" Theologie?), hat dies doch auch ein Pontifex wie Johannes XXIII. schon in den 1960ern als vordringliche Aufgaben der Kirche genannt.

Und die Katholische Sozialakademie Österreichs betont in einer Erläuterung der christlichen Soziallehre ausdrücklich die "Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit und gleiche Lebenschancen für alle zu ermöglichen", und dies "an der Seite der Armen, Benachteiligten und Abgewerteten". Na, wie sieht's bei der ÖVP aus damit?

Frömmelnder Kitsch

Eigentlich ist es ja grotesk, sich christlich-sozial nennende Parteien auf die Sorge um die Armen und auf die Barmherzigkeit hinweisen zu müssen (das gilt übrigens auch für Teile der Kirche in Europa). Statt frömmelnden Kitschs täte sie besser daran, sich etwa den Zorn des Psalms 82 im Alten Testament zu Herzen zu nehmen, wo es unter anderem heißt: "Verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen [...]." Allerdings schließt der Psalm resignierend: "Sie aber haben weder Einsicht noch Verstand, sie tappen dahin im Finstern. Alle Grundfesten der Erde wanken."

Ganz schön aktuell für einen rund 2500 Jahre alten Text. (Josef Christian Aigner, 16.8.2019)