Flohmärkte für Kinder, Jobmessen für Maturanten und Konzerte. Die Stadthalle von Bremerhaven an der Nordsee ist beliebter Austragungsort für Events aller Art. Es kann gut sein, dass manchem Besucher dieser Tage mulmig wird. Das zuständige Bauamt hat vor wenigen Wochen die Brandschutzvorrichtungen der Halle prüfen lassen.

Entdeckt wurden 165 Mängel. Die Brandmeldeanlage ist veraltet, Blitzableiter funktionieren nicht, die Sicherheitsbeleuchtung ist nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik, berichten lokale Medien. Die Halle wurde 1974 erbaut und seither nie generalsaniert.

Das ist kein Einzelfall in Deutschland. Marode Straßen, sanierungsbedürftige Schulgebäude und zerfallende Amtshäuser: Teile der öffentlichen Infrastruktur sind im schlechten Zustand. Inzwischen gibt es einen Konsens unter Ökonomen wie Politikern, dass Deutschland zu wenig investiert hat. Die große Koalition in Berlin gibt wieder mehr aus. Doch die Kritik, dass das immer noch zu wenig ist, wird lauter.

Dogma unter Druck

Selbst das große Dogma der deutschen Finanzpolitik gerät unter Druck: die schwarze Null. Eingeschaltet hat sich auch der einflussreiche Bundesverband der deutschen Industrie. Deren Chef, Joachim Lang, forderte am Mittwoch, dass die Koalition in Berlin "rasch umschalten" und kräftige Impulse für die Wirtschaft setzen müsse. Die schwarze Null gehöre auf den Prüfstand.

Deutschland erwirtschaftet dank sprudelnder Steuereinnahmen und geringer Ausgaben seit Jahren einen beträchtlichen Budgetüberschuss. Damit zahlt der Staat Schulden zurück. Diese Strategie der schwarzen Null war das Vermächtnis von Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Sein Nachfolger Olaf Scholz (SPD) hält am Kurs fest.

Inzwischen verlangt eine bunte Koalition ein Ende dieser Strategie. Die Motive sind unterschiedlich: Der Industrieverband wird aktiv, weil die Unternehmen inzwischen merklich unter Donald Trumps Handelspolitik und an den Unsicherheiten durch den Brexit leiden. Die deutschen Exporte im Juni lagen acht Prozent unter dem Vorjahreswert. Sie wollen, dass der Staat gegensteuert.

Bunte Koalition

Die Grünen wollen mehr Geld für den Umweltschutz. Teile der SPD können allen Argumenten etwas abgewinnen. In der CDU/CSU und bei der FDP war man bisher dagegen. Sollte sich die Konjunktur weiter abschwächen, werden auch die Staatseinnahmen zurückgehen, und die schwarze Null wäre dann nur schwer haltbar.

Eine weitere Debatte entwickelt sich parallel um das zweite Standbein der deutschen Fiskalpolitik: die Schuldenbremse. Sie ist seit 2009 in der deutschen Verfassung verankert. Die Schuldenbremse besagt, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Die Nettoneuverschuldung darf maximal 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen. Unter Ökonomen ist auch die Schuldenbremse umstritten. In Wahrheit verhindere sie Investitionen, so die Kritiker.

Die öffentliche Infrastruktur, auch Schwimmbäder, gilt in Deutschland als veraltet.

Die Komplexität der Debatte wurde gerade in einer Studie des Institus der deutschen Wirtschaft (IW) gut aufgezeigt. Eine Gruppe von Ökonomen um Jens Südekum hat sich im Auftrag des IW die Entwicklung der deutschen Regionen anhand von zwölf Indikatoren angesehen. So wurde ausgewertet, wie sich die Arbeitslosenrate, kommunale Schulden sowie die Kaufkraft entwickelt haben. Dann wurden Abweichler identifiziert. Von 96 deutschen Regionen sind demnach 19 abgehängt.

Wo die Verlierer wohnen

Während die Demografie vor allem in Ostdeutschland ein Problem ist, wo Menschen abwandern, liegen die wirtschaftlich am schlechtesten bewertete Gebiete in Westdeutschland. Besonders düster sehe es in Duisburg/Essen in Nordrhein-Westfalen aus. Auch Teile des Ruhrgebiets sind Problemregionen – und das eingangs erwähnte Bremerhaven. Die Autoren zeigen weiter, dass die Kommunen zu wenig investieren.

Die deutsche Regierung und die Bundesländer stecken seit Jahren mehr Geld in die Infrastruktur, als der Verschleiß ausmacht. Ihre Nettoinvestitionen sind positiv. Bei den Kommunen sind die Nettoinvestitionen seit 17 Jahren negativ.

Südekum und seine Kollegen sagen, dass Umbrüche dazu geführt haben. Im Ruhrgebiet ging die Zahl der Beschäftigten in der Kohle- und Stahlindustrie zurück. Menschen wurden arbeitslos. An der sozialen Absicherung mussten sich die Kommunen beteiligen, die rund die Hälfte der Kosten der deutschen Sozialhilfe Hartz IV tragen. Dadurch fehle in vielen Regionen Geld für neue Schulen, Straßen oder Schwimmbäder.

450 Milliarden Investitionen

Die Schuldenbremse erschwere eine Lösung dieser Probleme, weil Geld für künftige Investitionen nicht erlaubt ist, so Südekum. Sie soll daher weg. Keine Überschüsse zu erwirtschaften sei angesichts der Misere zu wenig. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, fordert ein 450-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm – finanziert über neue Schulden. Die Gelegenheit sei nie günstiger gewesen, weil die Zinsen so niedrig sind.

Forderung im Wahlkampf

Die Debatte ist auch für Österreich interessant, wo über eine Einführung der Schuldenbremse in der Verfassung diskutiert wird. Derzeit gibt es sie nur in einem Gesetz. ÖVP, FPÖ und Neos würden das gerne ändern. Befürworter argumentieren, dass die Schuldenbremse Spielraum lasse. So sieht auch die Regelung in Deutschland vor, dass sich der Staat bei einem wirtschaftlichen Einbruch etwas höher verschulden kann.

Nur müsse das in guten Zeiten ausgeglichen werden, was ohne das Instrument nie geschehen würde. Gegenargument: Diese Regeln sind dennoch zu einengend.

Lukas Sustala von der wirtschaftsliberalen Agenda Austria sagt, dass der Staat immer Spielräume nutzen könne. Er müsse dafür Investitionen vor Sozialausgaben priorisieren. In Österreich würde das bedeuten, bei den Ausgaben für Pensionen zu kürzen. (András Szigetvari, 16.8.2019)