Zehn Wochen vor dem geplanten Termin Ende Oktober verfolgen Industrie und Handel in Großbritannien, nicht zuletzt die wichtige Finanzbranche, mit Argusaugen die politische Debatte über die beste Brexit-Lösung. Erneut werden Notfallpläne für den Fall erörtert, dass die konservative Regierung unter Boris Johnson ihre Drohung eines chaotischen EU-Austritts ("No Deal") wahrmacht.

An der Börse fiel das Pfund auf einen Zehn-Jahres-Tiefststand, im zweiten Quartal 2019 kam es zu einer leichten Schrumpfung der Volkswirtschaft. Doch gibt es auch erfreulichere Meldungen. Der Arbeitsmarkt erweist sich als robust.

Vor dem Referendum im Juni 2016 hatten die meisten Ökonomen der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt massive Einbrüche vorhergesagt. Dass die eklatant negativen Folgen ausgeblieben sind, trägt jetzt zum Selbstbewusstsein des Premierministers und seiner Berater bei, die teilweise offensiv dem No Deal das Wort reden.

Hingegen weist die Mehrheit der Experten darauf hin: Aller politischen Debatte zum Trotz hat sich an den ökonomischen Grundlagen des Landes, insbesondere der Zugehörigkeit zu Binnenmarkt und Zollunion, bisher wenig geändert.

Auch Deutschland mit Problemen

Allerdings spüren Unternehmen seit dem Brexit-Referendum eine zunehmende Skepsis von Investoren; der Bank of England zufolge hat zudem die Wirtschaftsleistung unter der Unsicherheit gelitten. Im ersten Quartal 2019 wuchs die Wirtschaft noch um 0,5 Prozent, wohl nicht zuletzt wegen der Vorratshaltung vieler Unternehmen vor dem eigentlich geplanten Austrittstermin Ende März.

Im zweiten Quartal ging das Bruttoinlandsprodukt BIP um 0,2 Prozent zurück. Damit unterscheidet sich Großbritannien kaum vom größten EU-Mitglied Deutschland, wo die entsprechenden Kennziffern 0,4 und 0,1 Prozent betrugen.

Am Finanzplatz City of London überschlagen sich die Analysten mit düsteren Prognosen zum britischen Pfund. Einer nach eigenen Angaben konservativen Prognose der US-Investmentbank JPMorgan zufolge würde sich die britische Währung im Fall eines No Deal bei 1,15 Dollar einpendeln, möglich sei aber ein weiterer zehnprozentiger Verfall. Vor dem Brexit-Referendum im Juni 2016 gab es für ein Pfund 1,50 Dollar.

Landwirte warnen bei einer Demo in London vor den Folgen eines Brexits und fordern Kompensationen.

Überzeugte Brexiteers wie der Labour wählende Geschäftsmann John Mills halten das Pfund allerdings für überbewertet. Erst eine massive Abwertung werde der Insel erlauben, ihre darbende verarbeitende Industrie zu beleben.

Kräftiges Plus bei Löhnen

Vom Arbeitsmarkt gab es zuletzt erfreuliche Nachrichten. Die Beschäftigungsrate liegt bei der Rekordhöhe von 76,1 Prozent; die Arbeitslosigkeit stieg ganz leicht an, bewegt sich aber mit zuletzt 3,9 Prozent immer noch auf einem Tiefststand seit den 1970er-Jahren. Dies dürfte nicht zuletzt den Reformen der vergangenen Jahre geschuldet sein, die Erwerbslose zu rascher Jobsuche drängen.

Bruttolöhne stiegen im zweiten Quartal 2019 um 3,9 Prozent an; sie lagen damit auf dem höchsten Stand seit elf Jahren und deutlich über der Inflationsrate von 2,1 Prozent. Allerdings warnen Ökonomen vor einer Abkühlung: "Die Nachfrage nach Arbeitskräften wird geringer, weil sich die Wirtschaft insgesamt abkühlt", analysiert Andrew Wishart von der Beratungsfirma Capital Economics.

Ende der Sparpolitik

Stand unter seiner Vorgängerin Theresa May noch die Sparpolitik im Vordergrund, hat Johnson die Austerität stillschweigend beerdigt. Um die Folgen eines Crashs abzufedern, hat er sein eigenes Minikonjunkturprogramm versprochen. Mit 1,8 Mrd. Pfund sollen 20 Krankenhäuser modernisiert oder ganz ersetzt werden.

Die meisten liegen in wirtschaftlich eher benachteiligten Landesteilen wie den Grafschaften Lincoln oder Norfolk. 20000 neue Beamte sollen binnen drei Jahren die zuletzt übermäßig geschrumpfte Polizei verstärken. Besonders stark vom No Deal betroffenen Branchen soll ein eigens eingerichteter Regierungsfonds helfen. (Sebastian Borger, 16.8.2019)