Es wäre interessant zu wissen, wie laut es bei der Lärmsanierung zugeht, ob die Aufwände die Ergebnisse nicht übersteigen. Es werden keine Ursachen beseitigt, sondern Wirkungen minimiert.

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Wird es tatsächlich lauter, oder werden wir bloß älter? Sind wir gar wehleidig? Auch für mich gab es Zeiten, da hat mich der Lärm wenig gestört, ja er wurde gesucht und gemacht. Lärm stand für Bewegung, für Aktion. Da war was los. Sich in Bewegung zu setzen hieß alarmieren. Auffällig war der Lärm, und auffallen hieß lärmen. Lärm imponiert. Den Lärmenden sowieso, aber auch den Belärmten.

Was gestern noch beeindruckte, kann morgen schon verärgern: Lärmempfindungen sind nicht nur abhängig von Schalldruck, Tonhöhe, Toninhalt, Impulsgehalt. Lärm wirkt unterschiedlich auf Personen und in Situationen. Beim jeweiligen Subjekt geht es um Bereitschaft, Verfassung, Form, Alter, Umgebung, Kondition, Gesundheit, Gewohnheit, Gereiztheit, Begehrlichkeiten oder Unterwürfigkeiten.

Lärm ist kein physikalischer Zustand, sondern erst psychische Prozesse lassen Geräusche zum Lärm werden. Die Frage ist, ob das Laute inadäquat, ob es sekkant ist. Erst dann, wenn es so wirkt, ist von Lärm zu sprechen. Eine Messung in Dezibel hilft hier nur beschränkt weiter. Belästigung und Belastung sind ebenfalls nicht eins.

Von Lärm kontaminiert

Die kapitalistische Gesellschaft ist viel entschiedener vom Lärm beeinflusst, ja kontaminiert, als alle menschlichen Zusammenhänge zuvor. Erst in der Moderne ist es so richtig laut geworden. Das Leben der Subjekte ist vom Lärm geprägt. Er ist eine strukturelle Konstante. Lärm ist nicht mehr sporadisch, sondern beständig.

Er ist eine chronische Größe, die zwar Schwankungen kennt, aber eben nie ganz aussetzt. In keinem anderen sozialen Verhältnis spielte die Stringenz des Lärms eine solche Rolle. Der Kapitalismus setzt nicht nur seine eigenen akustischen Akzente, er hat vielmehr ein einzigartiges Kontinuum des Lärms geschaffen.

Die moderne Lautstärke ist Folge von Maschinisierung und Motorisierung, Resultat der Industrialisierung des Lebens. Maschinen und Motoren machen unerhörten Lärm. Straße und Fabrik sind Wirkung und Ursache zugleich. Die Fabrik ist als Hölle des Lärms entstanden. In ihren ungezügelten Kindheitstagen gab es da keine Rücksichtnahme. Ganze Generationen wurden den frühen Exzessen der Industrie geopfert.

Industrielle Laute generieren Lautstärken, die wir so früher nicht gekannt haben. Maschinen aller Art bevölkern den Planeten. Selten sind sie zurückhaltend, meist sind sie aufdringlich in ihrem Blasen, Brummen, Burren, Surren, Summen, Schneiden, Schlagen, Sprengen, Fräsen, Sägen, Hämmern, Plärren, Klappern, Sausen, Saugen, Dröhnen, Quietschen. Der Lärm weidet im Dasein. Erst im Kapitalismus geht der Lärm in Serie. Kein Rayon, den er nicht okkupieren will. Der Lärm dokumentiert die industrielle Bewaffnung der Gesellschaften, zeigt, welche Schlachten der Alltag so schlägt.

Kollateralschaden

Der den Maschinen inhärente Lärm wird als unliebsames Nebenprodukt, als Kollateralschaden bagatellisiert, dezidiert nicht als zentrale Destruktivkraft gesehen. Sein Rhythmus ist der Rhythmus der Industrie und all ihrer Erledigungen: Produktion, Transport, Konsum, Deponierung. Die Musikalität des Raums verliert sich in den Hallen der Fabriken, in der seriellen Monotonie der Automaten. Die Geräusche, die sie machen, entspringen keinem Verhalten, sondern einem Programm.

Hier liegt auch der tendenzielle Unterschied zum Krach, den jemand absichtlich erzeugt, um Aufmerksamkeit zu erregen oder zu provozieren. Stets wird gefahren und geflogen. Stets müssen sie anderswo sein, als sie sind. Der Verkehr wird bestimmt von der unablässigen wie zunehmenden Ortsveränderung von Menschen und Tieren, Pflanzen und Produkten. Als Waren sind sie allesamt unruhige Geschöpfe, Gejagte und Getriebene. Der Himmel der Fahr- und Flugzeuge offenbart sich als Universum des Lärms. Wir werden zugedröhnt, wir nehmen es hin.

Geschwindigkeit und Lautstärke korrespondieren. Je schneller, desto lauter! Lautstärke entsteht dabei oft gar nicht direkt aus den Geräten, sie ist vielmehr der Reibung von Dingen, die als gegenständliche Resultate eigentlich keinen Lärm machen (Asphalt, Reifen), durch das Tempo geschuldet.

Ein Experte schreibt: "Wichtigste Lärmquelle bei Geschwindigkeiten ab 50 Stundenkilometern sind Reifen-Fahrbahn-Geräusche sowie aerodynamische Geräusche. Die dadurch erzeugte Schallintensität steigt mit der dritten mitunter sogar vierten Potenz der Geschwindigkeit an. Konkret bedeutet dies bei Tempo 140 eine Zunahme der Schallintensität um 25 bis 35 Prozent gegenüber Tempo 130." (Christoph E. Mandl, DER STANDARD, 16. Februar 2019)

Alltagsproblem Verkehrslärm

Die Industrie hat die Fabriken längst verlassen, sie ist überall. In der Zwischenzeit ist der Lärm viel dekonzentrierter, was überdies meint, dass er dichter geworden ist. Nicht nur in den Großstädten. Vorrangiges Alltagsproblem ist heute der Verkehrslärm, Spitzenreiter sind dabei die Kraftfahrzeuge. Der Fabriklärm hat (nicht bloß aufgrund von Arbeitsschutzmaßnahmen) seinen Zenit bereits überschritten.

Dort, wo der Lärm unvergänglich und unumgänglich erscheint, ist der Widerstand oft auch schon erlahmt. Erfolge diverser Anti-Lärm-Initiativen halten sich in Grenzen. Gerät man bei akutem Krach schnell in Erregung, erfährt das chronische Gedröhn kaum noch eine Aversion, eher Resignation und Apathie.

Bei Maschinen haben wir den Widerstand aufgegeben, es herrscht Fatalismus. Gegenüber Menschen halten wir Interventionen für zweckmäßig. Wir leben jedenfalls in Zeiten, wo Autos weniger nerven als kreischende Kinder. Es ist bezeichnend, wie eine Gesellschaft sich den Diktaten der Automaten und Maschinen fügt.

Auch die Beschallung des öffentlichen Raums und der Verkaufsflächen boomt. Lärm ist vielfach etwas, das wir haben, ohne dass es uns mehr als Besonderheit auffällt. Nicht alles, was wirkt, erscheint. Während ich hier schreibe, laufen im Hintergrund sowohl die Waschmaschine als auch der Geschirrspüler.

Keine Nachtruhe

Mir fiele das unmittelbar gar nicht mehr auf, aber da ich gerade einen Beitrag zu besagtem Thema verfasse, entgehen mir diesmal die Geräusche nicht. Aber was heißt entgehen? Sie entgehen mir auch sonst nicht, bloß nehme ich sie nicht mehr als gesondert wahr. Sie gehören einfach dazu.

Man müsste die Leute auf Zeitreisen schicken, um eklatante Diskrepanzen sinnlich zu erfahren. Raumreisen sind dagegen nur ein schwacher Trost, bedenkt man noch dazu den Lärmaufwand, der alleine schon für den Transport betrieben werden muss.

Keine Entwicklung ohne Folgen auf die Lautstärke. Konsequenzen jenseits der Absicht häufen sich. Der Einbau von Klimaanlagen wird zunehmend zu einem nichtintendierten Knalleffekt der Klimaerwärmung. Der Klimawandel erhöht nicht nur die Temperatur, er steigert auch Produktion und Installation von Klimageräten.

Weil die Hitze nicht aufgehalten werden kann, muss es eben auch lauter werden. Niederschwelliges Surren will und will sodann nicht aufhören. Um null Uhr schalten sich die Dinger ein, und um drei Uhr schalten sie sich ab. Nach geltenden Gesetzen kein Problem. Es gleicht einem externen Tinnitus. Oft nervender als jeder Krach. Gleichförmig, eintönig, unüberhörbar.

Wie will man dem im Bett liegend, entfliehen? Nachtruhe ist nicht mehr das, was sie einmal versprochen und gehalten hat. Lärm, so lehrt das Beispiel, muss nicht unbedingt laut sein. Lärmdiagnosen sind sowieso situativ, keineswegs an Dezibel gebunden.

Flüsterbelag und Endschalldämpfer

Es wäre interessant zu wissen, wie laut es bei der Lärmsanierung zugeht, ob die Aufwände die Ergebnisse nicht übersteigen. Es werden keine Ursachen beseitigt, sondern Wirkungen minimiert. Vor allem jedoch tun sich sofort wieder Geschäftszweige auf. Probleme sind dazu da, monetarisiert zu werden.

Weder Straßen noch Autos werden weniger, dafür boomen Flüsterbeläge und Schutzwände, Lärmfilter und Endschalldämpfer. Der technischen Innovation sind keine Grenzen gesetzt. Wir reagieren auf Missstände und nicht auf Zustände. Es stören die Exzesse des Lärms, kaum jedoch die lautstarke Konstitution.

Jede sinnlich-stoffliche Rechnung müsste z. B. den Lärmaufwand berücksichtigen, der nötig ist, Schallschutzwände zu produzieren, an die entsprechenden Standorte zu transportieren und dort zu installieren. Nicht nur sagen, um wie viel es an der besagten Autobahnstrecke leiser wird, sondern auch, um wie viel es deswegen lauter werden musste. Kurzum: Lärmschutz erzeugt Lärm. Wir steigen aus der Spirale nicht aus, sondern drehen weiter an ihr. Irgendwann müssen diese Wände erneuert oder abgerissen werden. Presslufthämmer und Sprenggeräte lassen wiederum grüßen. Probleme werden multipliziert.

Lärm flutet sogar Räume, denen er eigentlich entzogen ist. Wenn es mich frühmorgens zum Laufen treibt, dann suche ich in erster Linie die Bewegung, in zweiter Hinsicht auch Ruhe. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Beim Joggen im Schönbrunner Schlosspark begegnen einem Lieferwägen, Laubbläser, Motorsägen, Rasenmäher, Zwergtraktoren im Zweitaktermodus. Gelegentlich ist es drinnen lauter als draußen. Meistens geht es noch gut, ab und zu wird es ungut.

Penetranz wird Kontinuität

Lärm überdeckt vieles, nicht bloß Geräusche mit niedrigerem Pegel, er beeinträchtigt auch andere sinnliche Reize. Lärm bricht des Lebens Vielfalt, Lärm reduziert unsere Rezeption. Lärm tangiert nicht nur die Lautstärke. Lärm verändert die gesamte Umgebung. Lärm verträgt sich schlecht, spielt sich sofort in den Vordergrund. Es schmeckt alles anders, wenn es zu laut wird. Die permanenten Geräusche verdrängen alles, was unter ihrer Frequenz liegt. Wenn etwas andauernd lästig ist, wird es nicht mehr als lästig empfunden, sondern als gegeben, also normal hingenommen. Penetranz geht in Kontinuität unter.

Augen kann man schließen, Ohren nicht. Hier hat die Natur keine Schutzvorrichtung vorgesehen. Auslieferung erfolgt pur. Eine schräge Möglichkeit, äußere Geräusche zu negieren, ist es, Fremdlärm durch Eigenlärm zu ersetzen. Man stülpt sich Kopfhörer über die Ohren und begegnet der Welt autistisch.

Außenbeschallung wird substituiert, indem wir sie übertönen. Indes, je lauter man hört, desto schwerhöriger wird man. "Aus heutiger Perspektive wird deshalb rund jeder dritte Jugendliche im Alter von 50 Jahren ein Hörgerät brauchen", konstatierte eine Expertin am "Tag gegen den Lärm" in dieser Zeitung. (Franz Schandl, 17.8.2019)