"Betrachtungen mit anekdotenhafter Leichtigkeit und philosophischer Schwere, ironisch und kritisch": Claudio Magris.

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Schnappschüsse, das sind jeweils flüchtige Momentaufnahmen, und doch haftet ihnen etwas Spontanes, Hintergründiges an, etwas, das zum Genauer-Hinschauen auffordert und einen nachdenklich werden lässt. Die insgesamt 48 Prosaminiaturen, die Claudio Magris zwischen 1999 und 2016 verfasst hat und die Budapest, Stockholm, Berlin oder New York und natürlich immer wieder Triest zum Schauplatz haben, sind poetische Momentaufnahmen, in denen das Welthaltige in kurzen Augenblicken, aber mit der langen Nachwirkung des Literarischen aufleuchtet.

Kleine Szenerien, Beobachtungen, ein paar aufgefangene Wortfetzen, eine Notiz in der Zeitung, ein zufälliges Foto oder bloß ein Schnappschuss der Erinnerung: ? Magris versteht seine Betrachtungen mit anekdotenhafter Leichtigkeit und philosophischer Schwere auszustatten, ironisch, kritisch, mit viel Sentiment und sachlicher Überlegung.

Vergiss die Farben!

Da verkündet eine Inschrift in Triest, gegenüber dem Haus, in dem Joyce gewohnt hat, in riesigen Lettern: "Vergiss die Farben!" Warum soll man vergessen, fragt der nachdenkliche Autor, was uns für einen Augenblick "ein Gefühl von Unsterblichkeit" verleiht? Oder wäre genau dieses Gefühl unangemessen, weil Schwarz-Weiß besser zu unserem grauen Alltag passt? Oder weil Farben, wissenschaftlich gesehen, nur Wellenlängen des Lichts sind?

Will der unbekannte Schreiber gar nur sein Missfallen mit Dumonts Farbenatlas zum Ausdruck bringen, der 999 unterschiedliche Farbtöne mit Zahlenkombinationen verzeichnet, weil sie mit keinem Wörterbuch mehr benennbar wären? Denn die Poesie, so Magris, bestehe doch gerade auch darin, den Dingen einen Namen zu geben, also mit Worten die Erscheinungen der Welt namhaft zu machen.

So ist alles poetisch Benennbare, Beschreibbare, Erzählbare ein solcher Schnappschussgegenstand wie etwa das Gesicht jenes indischen Mädchens, dem Magris im Jahr 2008 in Varanasi begegnet ist: Einen Säugling auf dem Arm, bettelt das Mädchen um Almosen, mit unschuldigem Lächeln und der "liebenswürdigen Grazie der Kindheit" in ihrem Gesicht. Als das kleine Mädchen jedoch bemerkt, wie hinter ihr ein alter, behinderter Mann das Gleiche versucht, stößt sie ihn mit einem Fußtritt weg, mit einem Mal ist alle Anmut aus ihr verschwunden.

Seht her!

Oder das umgestürzte Medusenhaupt in der Cisterna Basilica in Istanbul, dem Magris im Jahr 2006 eine Betrachtung widmet. Ursprünglich symbolhaft für die Antike, wurde die Medusa von der christlichen Weltordnung, die später ihrerseits von der des Islam überlagert wurde, zu einem Säulensockel umfunktioniert.

"Schichtungen der Kulturen", so Magris: "Die islamischen Kuppeln bedecken ein Universum, das nicht nur türkisch oder muslimisch ist, sondern auch griechisch, lateinisch, byzantinisch, genuesisch, venezianisch" usw. Und ganz unten das, was zuerst war, die Medusa, deren Anblick niemanden mehr versteinert, sondern die einem vielmehr "zublinzelt", als wollte sie sagen: Seht her, ich bin immer noch da!

Um kulturelle Schichtungen geht es gerade auch in Magris' Heimatort Triest, einem Kreuzungspunkt zwischen Ost und West, aber auch "zwischen der skandinavischen Melancholie gewisser winterlicher Sonnenuntergänge und der südlichen Vitalität des Sommers".

Und eben so sind diese Prosastücke angelegt, nüchtern, behutsam und mit der wachen Leidenschaft eines Gelehrten, der, vor kurzem achtzig geworden, mit Gelassenheit auf die Dinge des Lebens blickt. Notizen aus dem Alltag, nicht weniger als ein großes Lesebuch mit welthaltigen Themen. (Gerhard Zeillinger, 17.8.2019)