Einst gefürchtete Literaturkritikerin, jetzt Politkritikerin: Michiko Kakutani.

Foto: Petr Hlinomaz

Michiko Kakutani, "Der Tod der Wahrheit – Gedanken zur Kultur der Lüge", Klett-Cotta-Verlag, 197 Seiten, 20 Euro.

Foto: Klett-Cotta

Eigentlich wurde vor fast fünfzig Jahren alles gesagt. Damals, 1972, erschien Hannah Arendts Essayband Crises of the Republic. Darin enthalten war der Aufsatz Die Lüge in der Politik. Angesichts der Pentagon Papers und der Lügen des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon erinnerte die deutsch-amerikanische Philosophin an die Verletzlichkeit des Gewebes faktischer Realitäten: "Es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder durch das organisierte Lügen von Gruppen, Nationen oder Klassen in Fetzen gerissen oder verzerrt zu werden, oftmals sorgfältig verdeckt durch Berge von Unwahrheiten". Was würde die vor den Nazis geflohene Arendt heute schreiben? Würde sie sich heftiger denn je echauffieren? Oder sich erinnert fühlen an Hitler, Stalin, Mussolini?

Nun, sie würde wohl so eine messerscharfe Analyse zu Papier bringen wie Michiko Kakutani es mit Der Tod der WahrheitGedanken zur Kultur der Lüge (Klett-Cotta) tut.

33 Jahre Literaturkritikerin

Die 1955 in Connecticut geborene Journalistin gab 2017, nach 33 Jahren als Chef-Literaturkritikerin der New York Times, ihren Posten auf, um dieses Buch zu schreiben. In elf Kapiteln durchquert sie durchdringend illuminierend die Landschaft der wuchernden Lügen, grassierenden Kulturkämpfe, sprachlichen Desavouierung, der Unterminierung nicht disputierbarer Fakten.

Ihre Gegenwartsdiagnostik ist pointiert. Sie lässt nichts aus, weder Putins Internet-Trolle noch Facebook, nicht das Problem massiver politischer Unbildung, noch den pathologischen Lügner im Weißen Haus, weder die Indolenz der Öffentlichkeit angesichts demagogischer Populisten (die, regierend, allesamt versagen), noch die Gefahren für die liberalen Demokratien durch machtgierige Autoritäre: die schleichende Demontage des Rechtsstaates und die Infragestellung bürgerlicher Freiheitsrechte.

Farce oder Tragödie

Bei diesem Langessay ergibt sich selbstredend das Problem des Verfallsdatums. Das Manuskript war mutmaßlich im späten Frühjahr 2018 abgeschlossen. Nicht wenige Beispiele sind heute schon vergessen, übertönt von neueren Tabubrüchen, Skandalen und Lügen. Was sie zudem etwas länger hätte ausführen können, ist der neo-puritanische Extremdogmatismus an Universitäten und dessen reaktionär-rassistischer Backlash.

Ein kluges Buch, ein nachdenkliches, nicht selten ein pessimistisch stimmendes, in welche moralisch wie geistig bestürzenden Zeiten sich die Welt zurückkatapultiert hat. (Alexander Kluy, 16.8.2019)