Das Kino des Portugiesen Pedro Costa setzt auf kollaboratives Miteinander. Seine Hauptdarstellerin Vitalina Varela gibt seinem Film den Namen.

Foto: Locarno

Ein Anblick, bei dem man immer noch ins Schwärmen kommt: 8000 Menschen finden auf der Piazza Grande in Locarno Platz, auf einem Fleckerlteppich aus gelben und schwarzen Stühlen, die das Fell des Festival-"Tiers", des Leoparden, nachzeichnen. Und wenn Quentin Tarantinos Once Upon a time ... in Hollywood auf dem Programm steht, ist sie zum Bersten voll.

Für einen Moment könnte man das Geraune vom Niedergang des kollektiven Filmerlebnisses glatt vergessen. Doch ein Event spiegelt freilich nicht die Gesamtsituation wider. Nicht einmal die eines Filmfestivals wie Locarno. Immer mehr Filme, immer mehr Distributoren, aber immer weniger kompetente Lotsen – ungefähr so ließe sich die gegenwärtige Marktsituation umreißen. Die Französin Lili Hinstin, die ihren Einstand als Direktorin gab, will den Kurs ihrer beiden Vorgänger – Olivier Père und der nach Berlin berufene Carlo Chatrian – fortsetzen, die Locarnos Ruf als Ort für Wagnisse wieder festigten.

Im Wettbewerb dominiert avanciertes Arthouse-Kino, das mehr riskieren will als die Großfestivals – daneben gibt es schön übersichtlich viele andere Sektionen. Die Trennwände zwischen den Abteilungen sind jedoch zum Glück nicht so dick, dass der Dialog zwischen ihnen ausbliebe. Aus Österreich waren etwa zwei Filmessays zu sehen, die gängige dokumentarische Grenzen weit hinter sich lassen. Ralfs Farben ist das Porträt eines Schizophrenen, der zurückgezogen auf Lanzarote lebt. Filmemacher Lukas Marxt meißelte einen Film, der wie ein Brief vom Mars erscheint: Zwischen Gesteinstexturen, Apartmentblöcken, die vielleicht nur im Kopf existieren, und verschlungenen Überlegungen über "Halb-Fantasy" gerät man in den Sog eines (sinn-)freien Denkens.

"Space Dogs" von Elsa Kremser und Levin Peter,
Foto: Locarno

Space Dogs von Elsa Kremser und Levin Peter begleitet Straßenhunde durch Moskau, belässt es aber auch bei keiner realistischen Perspektive, wenn die tierischen Überlebenskünstler als Nachfahren sowjetischer Raumfahrtpioniere beschrieben werden. Die Anrufung der heroischen Vergangenheit von Laika und Co, per Voice-over und Archivbildern, rückt auch die zotteligen Streuner in ein zärtliches Licht.

Doch auch im Wettbewerb werden Sehgewohnheiten irritiert. Mit Vitalina Varela von Pedro Costa war etwa eine der bezwingendsten Arbeiten auch eine derjenigen, die dem Zuschauer konzentriertes Schauen abverlangten. Der portugiesische Regisseur setzt seine unnachahmliche Exkursion in die urbanen Slums kapverdischer Einwanderer in Lissabon fort. Die Figuren sind zum Teil Echos früherer Filme, etwa aus Horse Money, für den Costa in Locarno als bester Regisseur ausgezeichnet wurde.

Jedes seiner aus dem Dunkel geschabten Bilder ist exquisit. Vitalina, die nach dem Tod ihres Mannes bloßfüßig aus dem Flugzeug tritt, bleibt der einzige Bezugspunkt für das gespenstische Treiben. Trotz der Empörung, mit der sie die desolaten Räume bezieht, sucht sie Versöhnung in einem würdevollen Ende. Costas Kino will uns auf die Seite dieser Trauernden ziehen.

Exquisite Bildkompositionen

Der Galizier Eloy Enciso ist ein Geistesbruder von Costa. In Longa noite bilden Briefe und Textsorten aus der Zeit nach dem Terror der Falangisten der 1930er-Jahre den Ausgangspunkt für eine Studie menschlicher Unzulänglichkeiten in politisch ungewissen Zeiten. Wie Costa schafft Enciso einen Gedankenraum, der sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit bewegt. Anfängliche Dialogszenen weichen mit der Zeit nachtschwarzen Naturbildern, in denen die Figuren immer mehr auf ihre Ängste und Urtriebe zurückgeworfen sind.

Doch nicht alles in Locarno ist Autorenkino der strengen Sorte, Hinstin und ihre Kuratoren haben erfrischend abwechslungsreich programmiert. Auffallend war dabei die Anzahl spielerischer Zugänge. Der US-Amerikaner Joe Talbot erzählt in The Last Black Man in San Francisco von diffusen Untergangsstimmungen, anarchischen Inbesitznahmen sowie den Grenzen liberaler Toleranz in der Metropole.

A24

Hauptdarsteller Jimmie Fails spielt eine Variation seiner selbst und der eigenen Familiengeschichte. Es geht um ein viktorianisches Haus, das sein Großvater einst im "Harlem des Ostens" gekauft hatte und in das Jimmie im nun gentrifizierten Stadtteil illegalerweise einzieht. Der Traum vom eigenen Heim wird hier mit einer magischen, skurrilen Drehung zur historischen Reparation an den Schwarzen umgedeutet.

In Das freiwillige Jahr von Ulrich Köhler und Henner Winckler geht es dagegen darum, ein Bild für das heillose Durcheinander eines Mannes zu schaffen, der sich für rechtschaffen hält. Die Komödie um einen helikopterhaften Vater und seine Tochter gerät auf Abwege, ja in eine Chaosspirale, in der die Figuren nicht aus ihrer Haut heraus können. Köhler und Winckler haben ihren Film eigentlich als TV-Film produziert, nun wird er – auch in Österreich – ins Kino kommen. Ein gutes Beispiel dafür, wie beweglich der Markt sein kann
(Dominik Kamalzadeh aus Locarno, 17.8.2019)