Soziale Ungleichheit bedroht den Zusammenhalt in der Gesellschaft und letztendlich die Demokratie, sagte Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in seiner Eröffnungsrede zu den Gesundheitsgesprächen in Alpbach.

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Alpbach – Gesund sein ist kein individuelles Glück, sondern eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung: Das wissen die Verantwortlichen im Gesundheitssystemen und pilgern einmal im Jahr für eine Standortbestimmung nach Alpbach. Das diesjährige Motto ist zwar "Freiheit und Sicherheit", in Wahrheit geht es aber um aktuelle Herausforderungen wie hohe Gesundheitskosten, Digitalisierung und gute Versorgung für alle.

Den übergeordneten Rahmen lieferte Nobelpreisträger Joseph Stiglitz mit seiner Eröffnungsrede, in der er über die amerikanischen Verhältnisse berichtete. Die Quintessenz: Der amerikanische Traum ist ausgeträumt, die Mehrheit der Amerikaner hat keine Krankenversicherung, das US-System ist teuer und ineffizient und die Mehrheit der Bevölkerung ohne Hoffnung. "26 Superreiche besitzen so viel Vermögen wie 3,9 Milliarden Leute rund um den Globus", brachte Stiglitz die Ungleichheit auf den Punkt.

Gesundheit ist der Gradmesser für Amerikas neoliberale Marktwirtschaft. In den USA sinkt die Lebenserwartung, die Suizidraten steigen. Seine größte Sorge: "Die Menschen erkennen lange Zeit nicht, wenn Dinge in die falsche Richtung laufen" – Stiglitz meint damit Systeme, die zur kollektiven Armut beitragen. Ungleichheit öffnet dann den Weg für Demagogen, und diese gefährdeten nicht nur die Freiheit, sondern auch die Demokratie. In Europa seien die Entwicklungen nicht so drastisch, aber Stiglitz ortet Tendenzen.

Solidarität als Fundament

Wohltuend also, wenn Brigitte Zartl, die Gesundheits- und Sozialministerin der Übergangsregierung, betont, wie wichtig soziale Netze seien, weil "wir alle davon profitieren. Solidarität ist ein bisschen aus der Mode gekommen, aber wir brauchen sie. Wir haben viel zu verlieren, weil wir viel haben", und im Anschluss einen Wertekatalog für die Digitalisierung einfordert. "Ungleichheit ist nichts, was passiert, sondern eine Konsequenz von politischen Entscheidungen", betonte auch Stiglitz.

Auch der digitale Fortschritt in der Medizin sorgte für Diskussionen. Alena Buyx, Ethikerin an der Technischen Universität München, mahnte, sich in sämtlichen Entscheidungen immer die Grundfragen zu stellen: "Wer profitiert und wer nicht? Und welche Ziele wollen wir erreichen?" Das seien Fragen, die nur Menschen mit einem Wertesystem beantworten können, etwa bei der Diagnose von Krankheiten, die durch Big Data einen Sprung nach vorne mache und damit auch Systeme grundlegend verändere.

Bei den Gesundheitsgesprächen in Alpbach ist allen klar: Die Gesundheitskosten explodieren und haben das Zeug dazu, die solidarisch finanzierten Gesundheitssysteme Europas auszuhebeln. "Innovation muss ein Ziel haben", mahnte Thomas Gebauer, Direktor der Stiftung Medico.

Nicht wie die USA werden

Die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz kritisierte die Intransparenz vieler Entscheidungsgremien, in denen die Weichen gestellt werden. "Patienten und Patientinnen haben kein Mitspracherecht", so Pilz, die wie Gebauer Chancen in neuen partizipativen Modellen sieht. "Welchen Zusatznutzen bringt ein Medikament?" ist für Pilz eine entscheidende Frage, die immer auch im großen Kontext zu sehen ist. "Für Kindergesundheit ist zu wenig Geld da, obwohl gerade Kinder die Zukunft sind", mahnte sie.

"Ungleichheit ist eine politische Entscheidung und nicht die Folge eines Wirtschaftssystems oder einer Technologie", hatte Stiglitz in seinem Eingangsstatement gesagt. In einem Punkt waren sich alle in Alpbach einig: Europa darf nicht Amerika werden. (Karin Pollack, 19.8.2019)