Alle, die je mit der griechischen Mythologie zu tun hatten, kennen Zyklopen. Die einäugigen Riesen blieben im Gedächtnis haften. Der bekannteste Zyklop ist Polyphem, einer jener drei, die der unstete Odysseus im Laufe seiner Irrfahrt trifft. Polyphem lockt Odysseus und seine Männer in seine Wohnhöhle, sperrt zu, verspeist sechs von ihnen und läßt von Odysseus nur ab, als dieser sein einziges Auge blendet.

Das Bild der Landschaft entspricht nicht dem, wie wir Landschaft behandeln

Man kann sich Polyphems Wohnhöhle gut vorstellen. Riesig, steinern und wahrscheinlich mit Zyklopenmauerwerk ausgekleidet, also mit riesigen, grob behauenen Steinbrocken. Der einäugige und geblendete Riese in seiner Zyklopenhöhle ist ein schönes Sinnbild für das, was momentan unsere Landschaften vielfach verunziert: Stützmauern aus Zyklopenmauerwerk, auch Wurfsteinmauerwerk genannt, obwohl die tonnenschweren Brocken mit dem Werfen von Steinchen wenig gemein haben. Die Brocken werden übereinander geschichtet und hinterfüllt und halten große Hänge oder auch kleine Böschungen, etwa in Privatgärten, vom Rutschen ab. Die unförmigen Dinger sind funktional, aber entsprechen sie auch dem Bild jener Landschaft, in der sie stehen? Haben sie etwas mit der Kulturlandschaft der jeweiligen Orte zu tun? Oder eher mit den Bauunternehmen ebendort? Sehr oft stehen sie in einer relativ kleinräumlichen Umgebung, also unter Einfamilienhäusern, entlang von Wegen und Straßen oder neben Bächen. Während der Riese Polyphem also durchaus in eine Umgebung mit Zyklopenmauerwerk passte, wirken wir normalgroße Menschen und unsere ländlichen Bauten daneben wie Zwerge und Spielzeughäuser. Wir Menschen machen Landschaft. Also sollten wir uns fragen: Welche Landschaft wollen wir?

Der Maßstab von Zyklopenmauerwerk, gemessen an einer Mülltonne und Bäumen.
Foto: Sabine Pollak
Die Steine strahlen die Hitze ab, man fühlt sich wie im Steinbruch.
Foto: Sabine Pollak

Lernen von einem kleinen Schweizer Dorf

Die Belebung des Landlebens ist sehr wichtig. Großartige Initiativen entstehen derzeit an vielen Orten. Dorfkerne werden belebt, alte Wirtshäuser in Arbeitsräume verwandelt und diverse Konzepte wie Self-Service-Läden als Alternativen zu den am Ortsrand platzierten Supermärkten sind vielversprechend. Da wäre es gut, wenn man nun auch innovativ über die Behandlung von Straßen, Brücken, Zufahrten und Böschungen nachdenken würde. Dies ist sehr erfolgreich in Vrin geschehen, einem kleinen Schweizer Dorf mit nur etwa 250 Einwohnenden. Vrin hatte Glück, es hat einen Architekten, der von dort kommt, Gion A. Caminada. Er lebt und arbeitet in der Gemeinde und überlegt sich seit Jahren, was mit dem Dorf zu tun wäre. Damit es nicht ausstirbt, die wunderbare Baukultur der alten Gebäude erhalten bleibt, neue Gebäude diese Baukultur klug interpretieren und zudem aktuelle Konzepte vom Wohnen und Arbeiten im Dorf Einzug finden können. Vor allem jedoch hat Caminada bewirkt, dass per Baugesetz von Vrin Zäune (sofern sie nicht Tiere einzäunen), Hecken und Zyklopenmauerwerk verboten sind. Das Resultat ist ein sorgsamer Umgang mit der Kulturlandschaft. Stützmauern werden entweder in geschichteten, kleinen Steinen so wie früher auch errichtet oder in Sichtbeton. Das Vrin-Projekt ist mittlerweile publik geworden und zieht viele Leute an, die mit ähnlichen Situationen befasst sind. Learning from Vrin?

Stützwände in zwei Materialien, Rampe mit Schattenfugen, von Alvaro Siza in Portugal.
Foto: Sabine Pollak
Wände wie Kunstwerke von Nieto Sobejano Arquitectos in San Sebastian.
Foto: Sabine Pollak

Sorgfalt und Liebe, auch an den Ortsrändern

Zyklopenmauern tun als wären die Steine zufällig aus dem Steinbruch herausgebrochen, tatsächlich sind sie mit schweren Maschinen verlegte Großbauwerke. Steht man an einer dieser Mauern, bei hochsommerlichen Temperaturen wie jetzt gerade, kommt man sich vor wie mitten in einem Steinbruch. Die Reste an Landschaft, die sich zwischen Ballungszentren entlang der Straßen auffädeln, sollten wir nicht mit solch Monsterbauten traktieren. Und wir sollten auch per Gesetz vorschreiben, was dort gemacht werden darf und was nicht. Wie Einschnitte und Aufbauten in der Landschaft auszuführen sind, mit welcher Sorgfalt man sie herstellen muss und worauf dabei zu achten ist. Kann man Sorgfalt verordnen? Oder Hinwendung? Oder gar Liebe zum Material? Man könnte es versuchen. Dem Rand der Orte – solche Stützmauerwerke entstehen meist am Rand – sollte dieselbe Sorgfalt, Hinwendung und Liebe zukommen wie den Ortskernen (hoffentlich) zukommt.

Thujen gibt es auch in Spanien, aber die Zäune sind innovativer als bei uns.
Foto: Sabine Pollak
Eine Ziegelmauer, mit Liebe gemacht, in Hamburg.
Foto: Sabine Pollak

Langzeitwirkung für die wunde Landschaft

Das kleine Vrin hat es vorgezeigt, mit wenigen, knapp gefassten Regeln, die langfristig positive Wirkung zeigen. Regeln für Dörfer und Gemeinden zwischen dem Burgenland (weniger Böschungen, ist schon einmal gut) und Vorarlberg (mehr Baukultur, weniger Zyklopenmauerwerk) sollten sich an die Gegebenheiten vor Ort anpassen, nicht zu eng geschrieben sein und durchaus Variationen zulassen. Nur eines sollten sie eindeutig verbieten: Zyklopen- oder Wurfmauerwerk. Denn ja, Stützmauern sind auch Architektur und ja, sie gehören auch zur Baukultur. Auch Straßen, Wege, Unterführungen, Zufahrten und Zäune zählen dazu. Die Beliebigkeit mancher Vorstadtarchitektur wäre erträglicher, würde die Behandlung der Grundstücke sensibler erfolgen. Vielleicht benötigt nicht nur die Landschaft, sondern auch die Verkehrsplanung Zuwendung und Hilfe. Was man sich vorstellen kann anstelle der Brachialbauwerke für Zyklopen? Mit Liebe geschalte Betonwände, ausgesuchte Steine in Kleinformat, begrünte Wände und feinfühlig gesetzte Linien in der wunden Landschaft. Dann würde diese wieder genesen. (Sabine Pollak, 28.8.2019)

Literaturhinweise

  • Aicher, Florian (Hrsg.): Gion A. Caminada. Unterwegs zum Bauen. Ein Gespräch über Architektur mit Florian Aicher, Birkhäuser Verlag.
  • Gion A. Caminada. Cul zuffel e l’aura dado, Quart Verlag.

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