Während sich die Stadt Wien auf eine der größten infrastrukturellen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte vorbereitet – den Ausbau der U-Bahn-Linien U2 und U5 –, stehen auch bereits zahlreiche Teams von Archäologinnen und Archäologen in den Startlöchern, um die teils massiven Bodeneingriffe zu begleiten und gegebenenfalls Ausgrabungen durchzuführen. Insbesondere die großflächigen Baugruben der U-Bahn-Stationen im Innenstadtbereich stellen große Herausforderungen dar – gut möglich, dass Sie an dieser Stelle in den nächsten Jahren immer wieder darüber hören werden. Dies möchte ich zum Anlass nehmen, um an einem Beispiel zu beleuchten, was derartige Projekte nicht nur für die moderne Mobilität, sondern auch unser Wissen über die Geschichte einer Stadt bedeuten können.

Blick über die Ausgrabungen am Stephansplatz 1973.
Foto: BDA

Genug Tote für alle

Anfang der 1970er-Jahre wurde im Rahmen der Errichtung des Wiener U-Bahn-Netzes die viergeschoßige Station am Stephansplatz gebaut. Aufgrund der Recherche historischer Quellen war klar, dass dort mit den teils in Vergessenheit geratenen baulichen Resten aus dem Mittelalter, aber auch dem zwischen 1255 und 1732 genutzten Stephansfreithof, dem einst größten Friedhof der Wiener Innenstadt, zu rechnen war. Daher mussten 1972/73 archäologische Ausgrabungen durch das Bundesdenkmalamt (BDA) durchgeführt werden. Obwohl Gräber meine Spezialität sind, werde ich Ihnen heute aber nicht über diesen Friedhof berichten – leider, eine wissenschaftliche Neuaufnahme der damals geborgenen menschlichen Skelettreste wäre durchaus reizvoll, liegt jedoch in den Händen eines Kollegen. Wie es aber im Umkreis von alten Kirchen so üblich ist, gibt es genug Tote für alle, und so hatte ich 2015 die Gelegenheit, die menschlichen Überreste aus einer kleinen Anzahl von Grüften aus der dem Stephansdom vorgelagerten Maria-Magdalena-Kapelle zu untersuchen.

Die kleine Maria-Magdalena-Kapelle rechts neben dem Stephansdom in der Vogelschauansicht von Jakob Hoefnagel von 1609.
Foto: Wien Museum, Sacher GmbH

Zwölf Meter drunter

Die Maria-Magdalena-Kapelle wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Bereich des Friedhofs auf einer bereits vorhandenen unterirdischen Kapelle, die den Heiligen Erasmus, Helena und Virgil geweiht war, errichtet. Während die Maria-Magdalena-Kapelle durch einen Brand 1781 zerstört wurde, zeigte sich bei den Ausgrabungen 1972/73, dass Teile dieser Bauwerke, insbesondere die unterirdische Virgilkapelle, deren Bodenniveau sich etwa zwölf Meter unter dem heutigen Gehniveau befindet, erhalten waren. Dieser Teil gehört heute zum Wien-Museum und wurde 2015 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Neben einem der besterhaltenen frühgotischen Innenräume Wiens, dem ein modernes Beleuchtungskonzept eine besondere Ruhe und Ausstrahlung verleiht, bietet die Virgilkapelle auch eine Ausstellung zum Leben im mittelalterlichen Wien.

Rekonstruktion des Kapellenkomplexes mit Maria-Magdalena-Kapelle und unterirdischer Virgilkapelle. Die kleine Person links schaut durchs gleiche Fenster.
Foto: Wien Museum; Zeichnung: B. Münzenmayer-Stipanits

Im Zuge der Neueröffnung der Virgilkapelle wurde 2015 eine wissenschaftliche Neubewertung der architektonischen Befunde durchgeführt. Dies umfasste auch drei gemauerte Grüfte sowie sechs Erdgräber unter dem Chorbereich nahe dem Altar der Maria-Magdalena-Kapelle. Der Altarraum galt in der christlichen Bestattungstradition von jeher als der begehrteste Bestattungsplatz, der den wohlhabendsten Mitgliedern einer Gemeinde vorbehalten war. Von der Nähe zum Altar und damit zur Reliquie des oder der Heiligen, von der jede Kirche ihre sakrale Daseinsberechtigung bezog, erhoffte man sich einen direkten Weg ins Himmelreich. Daher war ein Ziel der Neuuntersuchung des Kapellenkomplexes auch eine Untersuchung dieser Gräber und die Identifikation der dort bestatteten Individuen.

Gruft 8 (links im Bild) nach Einsturz des Ziegelgewölbes.
Foto: BDA

Unvollständige Gräber

Da keine Grabplatten, die Auskunft über die Inhaber der Gräber und Grüfte geben könnten, mehr erhalten waren – diese wurden eventuell schon beim Brand 1781 zerstört –, machten wir (Marina Kaltenegger, Bauforscherin; Renate Kohn, Institut für Mittelalterforschung ÖAW; Michaela Kronberger, Wien-Museum; und ich) uns auf eine interdisziplinäre Spurensuche, um dieses Rätsel über historische und archäologische Quellen sowie biografische Daten aus den geborgenen Knochen zu lösen. Als erstes gravierendes Problem gestaltete sich die Tatsache, dass die Knochen nach den Ausgrabungen als verschwunden galten. Bei einem aufmerksamen Rundgang durch die Wien-Sammlung der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums waren mir jedoch schon früher Kisten mit der Aufschrift Maria-Magdalena-Kapelle aufgefallen, und so konnten diese beiden Informationen 2015 zusammengeführt und die Skelette aus der Maria-Magdalena-Kapelle "wiederentdeckt" werden.

Gruft 9 mit Grab 10 im Vordergrund.
Foto: BDA
Die beiden Erdgräber Grab 4 (Vordergrund) und Grab 6 (Hintergrund).
Foto: BDA

Eine anthropologische Untersuchung zeigte, dass sich in den Gräbern die Überreste von mindestens 55 Personen befanden. Jedoch war etwa die Hälfte davon auf wenige Knochenreste beschränkt, sodass keine weitere Bestimmung von Sterbealter, Geschlecht oder Pathologien erfolgen konnte. Auch die übrigen Bestattungen, 14 Männer, vier Frauen und sieben Kinder, waren größtenteils unvollständig, da Knochen von älteren Bestattungen bereits früher entfernt wurden und die Bergung bei der Grabung ebenfalls nur kursorisch stattgefunden haben dürfte. Unter den Bestattungen fand sich im Vergleich zu "normalen" frühneuzeitlichen Friedhöfen eine verhältnismäßig große Zahl von Personen älter als 50 Jahre, kleine Kinder fehlten dagegen fast vollständig. Ein sieben- bis achtjähriges Kind wies Spuren einer medizinisch-pathologischen Schädelöffnung auf, die in Wien bei unklaren Todesursachen ab dem 16. Jahrhundert durchgeführt wurde. Bis zum 18. Jahrhundert war dies aber Mitgliedern der Oberschicht vorbehalten. Darüber hinaus findet sich das volle Spektrum von Krankheiten, die die städtische Bevölkerung des frühneuzeitlichen Wien unabhängig vom Stand plagten, darunter Syphilis, Tuberkulose und bemerkenswert schlechte Zähne.

Massiver Zahnstein und Karies an den Kauflächen der Backenzähne einer Bestattung aus der Maria-Magdalena-Kapelle.
Foto: M. Binder

Ein Rätsel bleibt

Als zweite Quelle zur Identifikation konnten historische Abschriften von Grabdenkmälern von 14 Personen, die zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert in der Maria-Magdalena-Kapelle bestattet worden waren, herangezogen werden. Darunter waren hauptsächlich Mitglieder der Gottleichnamsbruderschaft und ihre Familien, die in der Kapelle ihren Sitz hatte. Ein Vergleich dieser Quellen mit den Skeletten gelang aber nur sehr begrenzt, einerseits aufgrund der unvollständigen Skelette, andererseits aufgrund der nur geringen Anzahl an historisch belegten Bestattungen. Bei den Kindern könnte es sich aufgrund des Alters um die Kinder der Anna Kleblat beziehungsweise Enzianer aus der Mitte des 16. Jahrhunderts handeln, während ein älterer Mann aufgrund der ungewöhnlich starken Muskelansätze und Gelenksabnützungen (sehr, sehr vorsichtig) als der Tischler und Bildschnitzer Wilhelm Rollinger, Schöpfer eines 1945 abgebrannten Chores im Stephansdom, identifiziert werden konnte.

Wenn auch die eigentliche Aufgabe, nämlich das Rätsel um die Identität der Bestattungen aus der Maria-Magdalena-Kapelle, nicht gelöst werden konnte, bot die Untersuchung trotzdem einen kleinen, faszinierenden Einblick in Bestattungswesen und Lebenswelten einer kleinen Oberschicht im Wien des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wer mehr über diese Zeit wissen will, dem sei ein Besuch in der Virgilkapelle (zugänglich von der U-Bahn-Station Stephansplatz) ans Herz gelegt. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung lassen sich in dem grafisch sehr schön aufbereiteten und auch für Nichtfachleute gut verständlichen Buch "Die Virgilkapelle in Wien – Baugeschichte und Nutzung", herausgegeben von Michaela Kronberger, nachlesen. (Michaela Binder, 22.8.2019)