Justin Vernon alias Bon Iver beherrscht das Songwriting zwischen himmelhoch jauchzend und am Boden zerstört wie kaum ein zweiter.

Foto: Graham Tolbert & Crystal Quinn

Angefangen hat alles vor über einem Jahrzehnt tief in den entrischen Wäldern des US-Bundesstaates Wisconsin. Bon Iver leitet sich von Bon Hiver, französisch für "guter Winter" ab. In einem solchen nahm Justin Vernon in der Abgeschiedenheit einer Jagdhütte die spartanisch nur mit Akustikgitarre eingespielten Songs seines Debüts "For Emma, Forever Ago" von 2008 auf.

Neben dem imaginären Krachen der Holzscheite im Kamin sowie der Bäume draußen unter der Eislast sowie dazugehörigem Wolfsgeheul trug vor allem der Schönklang dieser der Einsamkeit gewidmeten, beinahe körperlos steilgehenden Kopfstimme zum Erfolg von Bon Ivers Musik bei.


Bon Iver

Irgendwann wurden die sensiblen, "ehrlichen" Weltfluchten mit Vollbart, Holzhackerhemd und Gesichtsbehaarung inflationär im heutigen Straßenbild der großen Städte. Oder sie kamen als gefühlsverstärkende Titel- oder Sterbeszenenmusik in trashigen US-Krankenhausserien zum Einsatz. Noch Jahre davor stiegen Songs von Bon Iver wie "Skinny Love" zu heute selbst von Ed Sheeran gecoverten Klassikern des einwendigen Wimmerlieds und Vollbart- und Wollmützenpop auf. Motto: Traurig sind wir sowieso.

Elektrosoul statt Lagerfeuer

Es folgten der verdiente Weltruhm und das herzerfrischende, opulenter mit Begleitmusikern eingespielte und nachgerade lebensfrohe "Frühlingsalbum" "Bon Iver, Bon Iver" sowie nach fünfjähriger Pause das die Stammhörer doch erheblich verstörende und unruhige Meisterwerk "22, A Million" von 2016 als "Sommeralbum". Justin Vernon hatte dafür nicht nur retrofuturistische Harmonizer-, beziehungsweise aus dem heutigen Quietschenten-Pop bekannte Autotune-Effekte für den Gesang entdeckt.

Er verzichtete auch komplett auf die Lagerfeuerromantik. Vernon verfolgte lieber zukunftsorientierte elektronische Soul- und Hip-Hop-Ansätze mit mächtig viel Fracksausen aufgrund der unterirdischen Bässe. Die hatte er als gefragter Kooperationspartner von Leuten wie James Blake oder Kanye West schätzengelernt. Schon wieder Ed Sheeran. Bon Iver, das ist sozusagen Ed Sheeran mit Magisterarbeit.

Kunstlied und Kunstleid

Nun also ist der Herbst gekommen. Die neue Arbeit "i, i" ist in Kooperation mit Gästen wie besagtem James Blake entstanden. Die zwei Kunstleider verbinden so im Song "iMi" beider ursprünglich konträr entgegengesetzte Ansätze zu Kunstlied-Soul erster Güte. Neben bewährtem Steinzeitfolk mit Gitarre erklingen so im Hallraum, in dem die Beats stottern und stocken und pochen, oft auch zeitgenössische Kirchenlieder.

Bon Iver

An anderer Stelle taucht Hip-Hopper Wheezy auf, der sonst mit Young Thug gemeinsame Sache macht. Ältere Menschen dürften Keyboarder Bruce Hornsby noch mit seiner Formatradiowuchtel "The Way It Is" aus den 1980er-Jahren oder später als Musiker der Hippieinstitution The Grateful Dead kennen. Der Brooklyn Youth Chorus wird arrangiert von Dryce Dessner von The National. Dessen ebenfalls bei The National spielender Bruder Aaron und Vernon veröffentlichten im Vorjahr als Big Red Machine ein ähnlich wie nun "i,i" gelagertes Album.

Zwischen versöhnlicher Zusammenführung konservativer und innovativer Ansätze ist das Studio Hauptinstrument. Dazwischen irrlichtert Vernon als elektrischer Waldschrat herum. Was ein wenig fehlt: Ein Andachtsjodler von einer Artificial Intelligence wäre hübsch gewesen. (Christian Schachinger, 22. 8.2019)