Der Roopkund-See, auch Skeleton Lake genannt, lässt Forscher seit Jahrzehnten rätseln.
Foto: Atish Waghwase

Es ist ein makaberes Schauspiel, das sich alljährlich am Roopkund-See im indischen Himalaja abspielt. Meist ist der auf 5020 Metern Höhe gelegene Gebirgssee unter Schnee und Eis begraben, doch mit der sommerlichen Schmelze eröffnet sich der Blick auf eine grausige Szenerie: Die Überreste hunderter Menschen liegen hier verstreut – unzählige Knochen, Schädel und teilerhaltene Skelette.

Der aus naheliegenden Gründen auch als Skeleton Lake bekannte See beschäftigt Archäologen schon seit der Entdeckung der Toten in den 1940er-Jahren. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs befürchteten die Briten zunächst, es könnte sich um japanische Soldaten handeln, die eine Invasion geplant hatten. Doch schnell stellte sich heraus, dass die Knochen weitaus älter waren. Von wem also stammten sie, und was war an diesem abgelegenen Ort passiert?

Menschliche Knochen am Ufer des Roopkund-Sees.
Foto: Himadri Sinha Roy

Europäische Abstammung

"Es gibt viele unterschiedliche Annahmen darüber, wer diese Menschen waren, was sie zum Roopkund-See führte und warum sie hier starben", sagt Niraj Rai. Der Genetiker vom Birbal Sahni Institute for Palaeosciences in Lakhnau beschäftigt sich seit Jahren mit dem Rätsel. Gemeinsam mit Kollegen aus den USA und Deutschland legte Rai nun im Fachblatt "Nature Communications" umfangreiche genetische Analysen vor, die einige erstaunliche Details ans Licht bringen.

So konnten die Forscher eine gängige Theorie eindeutig widerlegen: Bei den Toten handelt es sich nicht um Mitglieder nur einer Gruppe, die durch ein einziges katastrophales Ereignis dahingerafft wurden. Vielmehr wurde der Gebirgssee zur letzten Ruhestätte von mindestens zwei unterschiedlichen Gruppen, zwischen deren Ableben etwa tausend Jahre lagen. Was die genetische Abstammung angeht, sind die Toten sogar noch diverser.

Wer waren die Toten? Schneebedeckte Teile eines Skeletts.
Foto: Pramod Joglekar

Aufschlussreiche Analysen

Für ihre Studie untersuchten Rai und Kollegen insgesamt 38 Skelette genauer. Die Knochen stammen von Männern wie Frauen, die allerdings nicht näher miteinander verwandt waren. Hinweise auf die Todesursachen, etwa auf fatale Krankheitserreger, fanden sich nicht. Mithilfe von Isotopenanalysen und der Radiokarbonmethode stellten die Forscher aber etwas anderes fest: 23 der Toten stammten aus dem 8. Jahrhundert, die übrigen 15 hingegen aus dem 18. Jahrhundert. Und während die Vertreter der jüngeren Gruppe allem Anschein nach zeitgleich ihr Leben ließen, dürften die Toten aus dem 8. Jahrhundert im Abstand von Jahren bis Jahrzehnten gestorben sein.

Die noch größere Überraschung brachten aber die DNA-Analysen der Knochen. Die Menschen aus dem 8. Jahrhundert waren südasiatischer Abstammung, ihre genetische Signatur findet sich in heute in Indien lebenden Menschen. In der Gruppe aus dem 18. Jahrhundert befand sich ein Mann südostasiatischer Abstammung, die 14 anderen Toten wiesen aber eine gänzlich andere genetische Signatur auf: Sie belegt eine Herkunft aus dem Mittelmeerraum und eine genetische Verwandtschaft mit den heutigen Bewohnern Griechenlands.

Nun stellte sich heraus, dass hier Tote aus verschiedenen Epochen liegen. Einige stammten aus dem Mittelmeerraum.
Foto: Pramod Joglekar

Mysteriöse Motivation

"Was diese Menschen hierher brachte und wie sie zu Tode kamen, bleibt unklar", sagt Rai. Das Ergebnis wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Womöglich ist die Sache sogar noch komplexer, denn aktuell wurden ja nur 38 Skelette untersucht. Gibt es noch weitere Herkunftsgruppen unter den vielen übrigen Toten? Rai: "Wir hoffen, dass dieser ersten Untersuchung viele weiter folgen werden, um diese Fragen zu klären."

Eine Hypothese dafür, was die Menschen aus dem 8. Jahrhundert in die Gegend führte, haben die Forscher: Der Roopkund-See liegt an einer traditionellen Pilgerroute, es könnte sich also um verstorbene Gläubige handeln, die hier zurückgelassen wurden. Dass hier aber ein Jahrtausend später Menschen aus dem Mittelmeerraum ebenfalls bei einer hinduistischen Pilgerreise ums Leben kamen, darf bezweifelt werden. (David Rennert, 21.8.2019)