Riane Eisler, Douglas P. Fry
Nurturing Our Humanity

How Domination and Partnership Shape Our Brains, Lives, and Future
Oxford University Press, New York 2019
376 Seiten, 25 Euro

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Die meisten Verwandten von Riane Eisler wurden in Konzentrationslagern ermordet. Die Frage, ob es so viel Gewalt geben muss, hat sie nie losgelassen.

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"Wir Menschen sind viel mehr zu Bewusstsein, Empathie und Kreativität veranlagt als für das, was das herrschende System verlangt", sagt Riane Eisler.
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Die amerikanische Sozialphilosophin Riane Eisler wurde 1931 in Wien geboren und flüchtete vor dem NS-Regime. In ihrem neuen Buch "Nurturing Our Humanity" beleuchtet sie, wie sich Dominanzstrukturen auf sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Ebene auswirken und warum ein Kulturwandel in Richtung Partnerschaftlichkeit von existenzieller Bedeutung ist.

STANDARD: Sie engagieren sich seit Jahrzehnten als Denkerin, Autorin und Aktivistin für den Aufbau menschlicherer Gesellschaftsstrukturen. Wie gehen Sie an diese Aufgabe heran?

Eisler: Meine Arbeit ist wie das Zusammensetzen eines Puzzles. Ich destilliere Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungsrichtungen wie etwa den Neurowissenschaften, der Ökonomie und der Chaostheorie, die oft nur isoliert betrachtet werden, und verknüpfe sie. So werden transdisziplinäre Zusammenhänge innerhalb eines Systems sichtbar. Und damit wird nachvollziehbar, wie die Verleugnung des Klimawandels und das Verlangen nach der Herrschaft eines "starken Mannes" in Verbindung stehen. Oder wie sich frühkindliche Erfahrungen auf spätere politische Überzeugungen und das Wahlverhalten auswirken.

STANDARD: Wo setzen Sie konkret an?

Eisler: Unser Menschenbild wird geprägt von der Gesellschaft, in der wir aufwachsen, und von den Vorbildern, die diese vorgibt. Leider neigen wir dazu, unsere Kultur als gegeben zu betrachten. Dabei verfügt die menschliche Spezies über ein hochentwickeltes Gehirn, das mehr Gedächtnisleistung, Informationsverarbeitung und Reflexion ermöglicht, als es bei anderen Lebewesen der Fall ist. Das bedeutet, dass wir Menschen unser Verhalten basierend auf Rückmeldungen ändern können. Und das aktuelle Feedback von allen Seiten – ökologisch, ökonomisch, sozial – ist, dass die Mischung aus Hochtechnologie und einem Ethos von Beherrschung und Ausbeutung nicht nachhaltig ist. Daher war es mir und meinem Co-Autor, dem Friedensforscher Douglas P. Fry, auch ein Anliegen, in unserem neuen Buch aufzuzeigen, wie die neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften die alten Geschichten und Mythen von "Erbsünde" und "egoistischen Genen" widerlegen – und ein ganz anderes Bild zeichnen. Nämlich dass wir Menschen viel mehr zu Bewusstsein, Empathie und Kreativität veranlagt sind als für das, was das herrschende System verlangt und uns von Kindheit an als Norm lehrt: Unempfindlichkeit, Kampf, Destruktivität.

STANDARD: Sie sind 1931 in Wien geboren, haben das NS-Regime miterlebt. Inwieweit hat diese Erfahrung dazu beigetragen, sich in Ihrer Forschung darauf zu konzentrieren, wie ein etabliertes Gesellschaftssystem verändert werden kann?

Eisler: Das war der Ausgangspunkt. Ich war ein kleines Mädchen, als in der Reichspogromnacht Gestapo-Männer in unsere Wohnung eindrangen und meinen Vater wegschleppten. Aber wir hatten Glück: Meine Mutter erkannte einen von der Gruppe – er hatte im Geschäft der Familie gearbeitet – und bekam meinen Vater frei. Wir schafften es auf eines der letzten Boote, die in Kuba angenommen wurden. Ich wuchs dann in den Industrieslums von Havanna auf und erlebte unter dem Batista-Regime erneut Ungerechtigkeit und Repression. Die meisten unserer Angehörigen wurden in Konzentrationslagern ermordet. All diese traumatischen Erlebnisse haben mich schon als Kind fragen lassen: Muss es so viel Gewalt geben, so viel Leiden? Ist es unvermeidlich, oder gibt es Alternativen? Diese Fragen haben mich nie losgelassen. Ich emigrierte in die USA, studierte Soziologie und Anthropologie, heiratete, bekam zwei Töchter und machte meinen Doktor in Rechtswissenschaften. In den späten 1960er-Jahren schloss ich mich der Frauenbewegung an und setzte mich für die Änderung in der Bundesverfassung zugunsten der Gleichberechtigung der Frau ein. Die Bemühungen scheiterten. Mir wurde klar, dass es nicht genügt, Gesetze zu ändern, sondern dass es etwas Tiefergehendes braucht: nämlich die Veränderung der zugrunde liegenden Kultur, die Ungerechtigkeiten duldet.

STANDARD: Bereits Ihre früheren Arbeiten bauen auf der Theorie auf, dass im Lauf der Geschichte alle Formen menschlichen Zusammenlebens entweder dominanz- oder partnerschaftsorientiert sind. Wie definieren Sie diese beiden Ausrichtungen?

Eisler: Ich habe schnell realisiert, dass es nicht sinnvoll ist, Gesellschaftssysteme aus der Perspektive altbekannter Kategorien zu betrachten – wie etwa rechts oder links, religiös oder säkular, kapitalistisch oder sozialistisch, östlich oder westlich. Diese Kategorien dienen meiner Ansicht nach der Massenablenkung, weil sie unser Bewusstsein fragmentieren. Tatsächlich finden wir im historischen Verlauf in jeder dieser Kategorien Regimes der Gewalttätigkeit, Repression und Ausbeutung.

Zusätzlich fiel mir auf, dass in diesen Kategorien wie bei allem, was ich an Universitäten gelernt hatte, ein wesentlicher Teil der Menschheit so gut wie gar nicht berücksichtigt wurde: Frauen und Kinder. Das Paradigma, das ich dahinter erkannte, ist "Dominanz": die Überordnung einer Hälfte der Menschheit über die andere. Dominanzsysteme sind geprägt von autoritären Strukturen und Manipulation durch Angst und Bestrafung. Um die Hierarchie aufrechtzuerhalten, müssen Fürsorge und Empathie unterdrückt und herabgewürdigt werden. Angefangen in der Familie – und von dort ausgehend auch im wirtschaftlichen und politischen Leben.

Das zweite Modell, in dem es nicht um die "Macht über" geht, sondern um die die "Macht des Miteinanders", um Egalität und gegenseitige Fürsorge, nannte ich "Partnerschaft". Bewusst nicht "Kooperation", denn kooperiert wird auch in Dominanzsystemen. Ich bezeichne meine Theorie als Dominanz-Partnerschafts-Kontinuum, da keine Gesellschaft ausschließlich das eine oder das andere ist. Der Grad der Orientierung führt jedoch zu sehr unterschiedlichen sozialen Systemen – egal ob im Westen oder Osten, mit oder ohne religiöse Ausrichtung. Beispiele für extrem repressive und gewalttätige Dominanzsysteme im Lauf der Geschichte sind Nazideutschland, Khomeinis Iran, Kim Jong-uns Nordkorea, der IS im Nahen Osten oder Boko Haram in Afrika. Näher am partnerschaftlichen Pol zu verorten sind etwa indigene Ethnien wie die Minangkabau in Indonesien und die nordischen Länder Finnland, Norwegen und Schweden.

STANDARD: Wie konnten etwa die nordischen Länder dies erreichen?

Eisler: Der Frauenanteil in der Politik liegt zwischen 40 und 50 Prozent. Das hat zu einer höheren Wertschätzung von Fürsorge und Empathie geführt. Mit zunehmendem Status von Frauen steigt auch der Status von Merkmalen und Aktivitäten, die in dominanzorientierten Kulturen von Männern als inakzeptabel eingestuft werden, weil sie mit "minderwertiger" Weiblichkeit in Verbindung gebracht werden. Männer in partnerschaftlich orientierten Kulturen empfinden es nicht länger als Bedrohung für Status und Männlichkeit, weibliche Züge und Verhaltensweisen anzuerkennen. Daher haben nicht nur Frauen, sondern auch Männer für eine fürsorglichere Politik gestimmt, für eine allgemeine Gesundheitsversorgung, hochwertige Kinderbetreuung und eine staatlich unterstützte Elternzeit, die auch den Vaterschaftsurlaub fördert.

Obwohl auch die nordischen Länder keine "idealen" Gesellschaften sind, weisen sie heute niedrige Armuts- und hohe Bildungserfolgsquoten auf. Sie sind führend in Sachen Umweltpolitik, haben einen hohen Anteil an Genossenschaftsunternehmen und investieren proportional mehr in die Hilfe für arme Nationen als andere reiche Länder. Geschlechtergerechtigkeit ist eine Schlüsselkomponente bei der Herausbildung von Partnerschaftlichkeit. Eine andere ist, die Traditionen von Gewalt und Bestrafung hinter sich zu lassen. Die nordischen Länder haben als erste Gesetze gegen die körperliche Disziplinierung von Kindern innerhalb der Familie eingeführt.

STANDARD: Inwiefern sind frühkindliche Beziehungen entscheidend für die Aufrechterhaltung von Dominanzsystemen?

Eisler: Sie sind Grundlagen, über die sich Dominanzsysteme immer wieder neu aufbauen. Es ist kein Zufall, dass in Kalifaten, imperialistischen und faschistischen Systemen die traditionelle Kleinfamilie befördert wurde. Diese ist streng von Männern dominiert und von der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Frauen geprägt. Die Kinder lernen durch Angst und Bestrafung, sich anzupassen und zu unterwerfen. Die Kinder lernen auch das, was für Dominanzsysteme wesentlich ist: Sie prägen in ihre mentale Landkarte, beginnend mit der unterschiedlichen Bewertung von Mann und Frau, Differenzierungskategorien für "Outgroups" ein – Überlegenheit und Minderwertigkeit, dominieren und dominiert werden, dienen oder bedient werden. Damit verinnerlichen sie ein Muster, das dann automatisch angewandt wird in Bezug auf eine andere Bevölkerungsgruppe, Religion oder sexuelle Orientierung.

Die Identifikation mit der Unmenschlichkeit verbaut den Weg zur Entwicklung der eigenen Identität und Talente. Sie führt in Abhängigkeiten, Depression, Massenkonsum. Durch die Neurowissenschaften ist heute nachgewiesen, wie sich Angst und Stress auf die Gehirnentwicklung auswirken und Traumata über Generationen weitergegeben werden können. Die gute Nachricht: Es wurde auch erforscht, wie diese tiefliegenden Reaktionsmuster veränderbar sind. Deterministische Theorien wie die des natürlichen Bösen im Menschen sind damit nicht mehr haltbar. Im Laufe der Zeit wurden viele Ideologien als Wissenschaft oder Philosophie verkleidet. Im Hinblick auf die Macht der Narrative fordern uns die jüngeren Forschungen also auch auf, lange anerkanntes Wissen zu hinterfragen, neue Möglichkeiten der Interpretation einzubeziehen und Lücken zu schließen.

STANDARD: Die klassische Wissenschaftsliteratur müsste demnach, zumindest teilweise, umgeschrieben werden?

Eisler: Die Geschichtsbücher auf jeden Fall. Die weibliche Geschichtslosigkeit ist im Dominanzsystem programmatisch. Außerdem halte ich das Wissen um die frühe Menschheitsgeschichte für grundlegend. Sogenannte Patriarchate, also Dominanzsysteme, sind erst innerhalb der vergangenen 10.000 Jahre entstanden. Über hunderttausende Jahre, darauf weisen archäologische Funde hin, dürften die Menschen überwiegend in egalitären Gemeinschaften gelebt haben. In den bildlichen Darstellungen des Neolithikums finden sich keine Idealisierungen von bewaffneter Macht und "heldenhaften Kriegern", wie sie heute in Spielfilmen und Computerspielen immer noch tradiert werden. Figurinen gebärender Frauen – als zentrale religiöse Symbole – sind Zeugnisse, dass Leben und Lebensfreude im Zentrum des Interesses standen, nicht der so sehr der Tod und Todesangst. Eine Fülle von Natursymbolen lässt auf die Empfindung einer Einheit mit der Natur schließen. Das Bewusstsein hinsichtlich des Lebenssystems von Mutter Erde steht im deutlichen Gegensatz zur ausbeuterischen Ideologie unserer heutigen Zeit. Der Klimawandel ist demnach auch in Zusammenhang mit der aktuell vorherrschenden Abwertung der Fürsorge für Mensch und Natur zu sehen. Diese ist wiederum in den geschlechtsspezifischen Bewertungen verwurzelt, die wir geerbt haben.

STANDARD: Welche Parameter sind Ihres Erachtens für eine partnerschaftlichere Klima- und Wirtschaftspolitik wesentlich?

Eisler: An China und den Vereinigten Staaten heute unter Donald Trump etwa sehen wir, dass sowohl die kapitalistische als auch die sozialistische Theorie grundlegende Werte wie die Pflege der Natur und des Menschen nicht anerkennen. Die Praxis des Sozialismus in der ehemaligen Sowjetunion wie auch in China ist von Umweltkatastrophen gekennzeichnet. Genauso zerstört die mit dem Kapitalismus einhergehende imperiale Lebensweise unsere Umwelt. Heute beansprucht die Menschheit anderthalbmal so viele natürliche Ressourcen, wie unser Planet regenerieren kann. Eine politisch umgesetzte Wertschätzung der Fürsorge könnte die Besteuerung von CO2-Emissionen beinhalten und Steuergutschriften für Unternehmen, die unser Lebenserhaltungssystem schützen, etwa durch Recycling. Die Grundlage für ein partnerschaftliches Wirtschaftssystem ist die Erkenntnis, dass der wahre Reichtum einer Gesellschaft aus den Beiträgen von Menschen und der Natur besteht. Deshalb brauchen wir Richtlinien, die den enormen Wert der Fürsorgearbeit anerkennen. Die Ökonomen Marx, Smith und Keynes sahen diese nicht als "produktive", sondern nur als "reproduktive" Arbeit an. Das Bruttoinlandsprodukt, der Wirtschaftsindikator, auf den sich die politischen Entscheidungsträger heute verlassen, ist ein seltsamer Indikator.

STANDARD: Inwiefern?

Eisler: Es werden Aktivitäten berücksichtigt, die lebensbedrohliche Schäden verursachen. Der Verkauf von Zigaretten und auch die Kosten einer Folgeerkrankung bis hin zur Bestattung steigern das BIP. Dies gilt auch für Ölverschmutzungen, da Aufräumarbeiten und Rechtsstreitigkeiten ebenfalls das BIP heben. Das BIP umfasst aber keine lebensnotwendigen Aktivitäten wie Naturschutz, Haushaltsarbeit oder die Betreuung von Kindern – dem nach Ansicht mancher Ökonomen wichtigsten "Kapital" im postindustriellen Zeitalter. Eine aktuelle australische Studie zeigt zum Beispiel auf, dass die sogenannte Care-Arbeit, die in Haushalten unbezahlt geleistet wird, wenn sie im BIP enthalten wäre, 50 Prozent dazu beitragen würde.

STANDARD: Welche Rolle wird Fürsorge im Finanzsystem der Zukunft einnehmen?

Eisler: Die Kombination von Überbevölkerung aufgrund der Verweigerung der reproduktiven Freiheit für Frauen und künstlich erzeugter Ressourcenknappheit macht eine Abkehr von der konsumorientierten Marktwirtschaft unabdingbar. Dieser Wandel ist auch deshalb von entscheidender Bedeutung, weil wir aufgrund eines massiven technologischen Wandels in eine Ära der strukturellen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung eintreten werden. Ein garantiertes Jahreseinkommen oder eine negative Einkommensteuer, bei der die Menschen Geldstipendien erhalten, wäre eine Reaktion auf die Ablösung menschlicher Arbeitskraft durch Automatisierung und Robotik – Tendenzen, die mit der Entwicklung der künstlichen Intelligenz exponentiell zunehmen werden. Ein Lösungsansatz könnte sein, diese finanzielle Unterstützung zum Beispiel mit der Arbeit zu verknüpfen, die nur Menschen leisten können: Fürsorge. Menschen brauchen eine sinnvolle Arbeit, um Erfüllung zu empfinden. Das bloße Verteilen von Geld fördert keine positiven Beiträge.

STANDARD: Angesichts des Erstarkens faschistoider Regime – welche Chancen sehen Sie für eine weltweite Entwicklung in Richtung Partnerschaftlichkeit?

Eisler: Seit der Industriellen Revolution gibt es eine anhaltende Vorwärtsbewegung in diese Richtung. Und sie gewinnt weltweit an Dynamik. Ein Grund für die Regressionen in Richtung Dominanz ist meines Erachtens, dass sich die sozialen Bewegungen bislang vorrangig auf den öffentlichen Bereich von Politik und Wirtschaft konzentriert haben. Damit lässt sich nur eine Oberflächenänderung innerhalb des bestehenden Systems erreichen. Für einen Wandel auf Systemebene ist die Arbeit am Fundament der Dominanzpyramide wesentlich, über das sie sich sonst immer wieder von Neuem aufbaut: Frühkindliche Beziehungen, Geschlechtergerechtigkeit, neue Narrative und die wirtschaftliche Neubewertung der Fürsorgearbeit sind maßgebliche Faktoren. Unsere Zeit massiver Verwerfungen ist eine Chance für transformative Veränderungen. Menschen haben die Fähigkeit, neue Realitäten gedanklich vorwegzunehmen und sie auch umzusetzen. Wir gestalten unsere Evolution selber mit. (Nina Kreuzinger, 28.8.2019)