Das Glas, die Form: Gustav Ernst in seinem Hauptquartier im zweiten Wiener Bezirk.

Foto: Heribert Corn

Als Herausgeber der Literaturzeitschrift kolik ist Autor Gustav Ernst, der am Freitag 75 Jahre alt wird, ein Leuchtturmwärter geblieben. In der österreichischen Literaturszene hält er gemeinsam mit seiner Frau, der Literaturkritikerin Karin Fleischanderl, das Banner des Engagements hoch. Ernst lehrt unter anderem die Kunst, einen realistischen, unverkitschten Blick auf die heimischen Zustände zu werfen. Entstanden sind dabei 13 Theaterstücke und eine Unzahl klug kalkulierter, ungemein drastischer Erzählwerke (zuletzt: Zur unmöglichen Aussicht, 2015).

STANDARD: Sie haben gemeinsam mit Karin Fleischanderl viele Literatur-Workshops abgehalten. Jetzt ist von Ihnen beiden eine Schule des Romanschreibens herausgekommen. Lässt sich die Königsgattung des Dichtens lehren?

Ernst: Es ging vor allem um die Erfahrungen mit dem Schreiben von Romanen. Das fängt ja mit dem Niederschreiben der ersten Prosaseite an. Worauf muss ich achtgeben? Da bin ich noch bei keiner Poetik, sondern bei einfachen Fragen, zum Beispiel: Wie vermeide ich Kitsch?

STANDARD: Mittlerweile ist der Roman das Synonym für die Warenform in der Literatur schlechthin. Jeder Verlag wünscht sich dicke Wälzer, süffige Erzählwerke ...

Ernst: Ich bin gegen diese belletristische Schwemme! Da werden Unmengen von Dingen zusammengeschrieben, G'schicht'ln, in denen nichts Wesentliches stattfindet. Wir plädieren für das Überschreiten der Null-acht-fünfzehn-Form. Romane sind nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder unter Verdacht gestanden, die Erfahrungen der Nazi-Zeit zu unterdrücken. Daher das Misstrauen gegenüber dieser Form. Inzwischen werden solche Romane längst geschrieben.

STANDARD: Am Anfang Ihres Schreibens stand der soziale Anspruch: Gesellschaftliche Widersprüche sollten realistisch ausgedrückt werden. Sie waren 1969 im Gründungsteam der Zeitschrift Wespennest, als man sich strikt kollektiv organisierte. Sind die linken Ansprüche an das literarische Arbeiten nicht verschwunden?

Ernst: Damals herrschte ein Interesse an neuen literarischen Darstellungsformen. Als wir begannen, gab es die Wiener Gruppe, die Avantgarde und die Konkrete Poesie. Es ist nicht so, dass wir davon nicht gelernt hätten: Wir, die Gruppe Wespennest, haben zum Beispiel Aktionen veranstaltet, Gruppenlesungen und so weiter. Natürlich betrieben wir politische Agitation, aber wir bedienten uns dabei sehr exzessiv neuer Formen.

STANDARD: Das Schreiben sollte aber "realistisch" sein?

Ernst: Wir hatten die Erneuerung des Sprachbewusstseins nachdrücklich zur Kenntnis genommen. Sprachkritik ist okay; nur wollten wir die Verhältnisse, wie wir sie vorfanden, auch benennen. Interessanterweise haben wir zu diesem Behuf meist keine Romane geschrieben. Es ging uns realistischen Autoren darum, Zustände zu beschreiben: durchaus in einer Abfolge, sodass sie zusammen eine gemeinsame Geschichte ergaben. Das Unterhaltende war nicht vordringlich. Es sollten die Verhältnisse zur Kenntlichkeit gebracht werden.

STANDARD: Damit es zu Umwälzungen kommt?

Ernst: So, dass man aufspringt, aus der Tür rennt und den nächsten erwürgt! Das Romanhafte als Kategorie ist für mich dafür bis heute nicht ausschlaggebend. Es geht um die Organisation des Erzählerischen, und die folgt bestimmten Regeln. Das gilt auch für kleinste Formen. Selbst wenn du einen Absatz schreibst, musst du wissen, wie du ihn konstruierst. Wichtig ist die Organisation des Materials.

STANDARD: Die abgewandelte Bertolt-Brecht-Formel: Wesentlich ist die Wiedergabe von Wirklichkeit, aber auf dem bestmöglichen technischen Standard?

Ernst: Genau.

STANDARD: In Ihrer Literatur, die sich sehr kräftig ausspricht, haben Sie wiederholt den Zusammenhang von Bauch und Kopf herausgearbeitet.

Ernst: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Ich bin leidenschaftlicher Esser. Ich greife gerne zu und betrachte das Essen nicht nur mit Blick auf seinen Ernährungsgehalt, sondern liebe generell das gesellige Treiben. Nur durch eine sinnliche Auffassung entstehen Dinge.

STANDARD: Erst das Bauchgefühl belehrt darüber, ob die Verhältnisse in Unordnung sind?

Ernst: Die Verhältnisse magerln einen, wie es wienerisch heißt. Ich bin, was die Emotionalität betrifft, sehr für Ausbrüche. Sie sind notwendig, damit etwas explodiert und hinausfliegt. So geht es vielfach auch den Figuren in meinen Stücken: Sie haben irgendwann einen Ausbruch, damit man sieht, was in ihnen drin steckt.

STANDARD: Die gefürchtete Gustav Ernst'sche Wut?

Ernst: Mein Anspruch besteht darin, diesen Ausbrüchen eine Form zu verleihen. Auch Wut will gebändigt sein. Man muss ganz nahe am Leser dran bleiben. Und doch schafft die Form ein Dazwischenliegendes, eine Wand aus Glas.

STANDARD: Darin besteht die Schwerarbeit?

Ernst: Das ist die Lust an der Arbeit: die Emotionen herauszulassen, aber nicht nur. Da braucht es womöglich mehrere Fassungen, bis das ganze schaurige Schlamassel endlich gebändigt ist. Erst wenn das passiert ist, bin ich glücklich. Endlich sitzt der Exzess im Reagenzglas drin! Diese Form der Klarheit wird natürlich nicht immer geschätzt.

STANDARD: Das alte Proletariat hat sich längst in alle gesellschaftlichen Himmelsrichtungen verdünnisiert. Wer wäre heute ein mögliches Subjekt des Fortschritts?

Ernst: Ich kandidiere jedenfalls nicht für diesen Posten! Wir müssen schauen, dass in der Gesellschaft nichts Schlimmeres passiert, und müssen zuwarten. Dass sich die Dinge dynamisieren und doch noch etwas zustande kommt. Eine Partei oder eine Vereinigung – oder eine Person, die gewissermaßen den Überblick hat. Das ist das erste Mal, seit ich auf der Welt bin, dass es so jemanden nicht gibt. Ich weiß auch nicht, ob der Protest der Klimaschützer in dieser Hinsicht etwas bewirkt.

STANDARD: Sie haben gegen die schwarz-blaue Bundesregierung vor bald 20 Jahren als Theaterautor recht drastisch polemisiert. Haben sich mit Türkis-Blau die Verhältnisse nochmals radikalisiert?

Ernst: Schwarz-Blau war vor allem ein Sieges-, ein Macht- und Geldrausch. Man verscherbelte öffentliches Eigentum, um sich und Freunde zu bereichern. Endlich an den Trögen! Es herrschte eher eine karnevaleske Stimmung. Bei Türkis-Blau kam etwas wesentlich Neues hinzu. Man widmete sich dem Auf- und Ausbau von dauerhaften Strukturen, um Macht- und Geldgier langfristig erhalten zu können. Alles, was dabei stört, muss weg: die Unabhängigkeit von Presse und ORF. Die Bedeutung von Justiz und Parlament wird geschmälert. Alles, was nützt, muss her, die Kontrolle über die Geheimdienste, über Polizei und Militär. Die Einschränkung des Informationsflusses aus den Ministerien, die Vorbereitung prophylaktischer Verhaftungen, die Diskriminierung der Caritas, die Verstaatlichung der Flüchtlingsversorgung et cetera. Ein durchkalkulierter Plan zur endgültigen Machtübernahme. Und Altkanzler Kurz? Merkte von alledem nichts. Scheußlich. (Ronald Pohl, 23.8.2019)