Das Meer um Lampedusa erfrischt den Geist – und die unzähligen Toten sind Mahnung gegen die Gleichgültigkeit.

Foto: Wilfried Embacher

"Zuzeiten ins Meer einzutauchen ist, was wir brauchen, weil es den Geist erfrischt", antwortete mir Paola auf meine Zweifel bezüglich der geplanten Reise nach Lampedusa. Paola hatte mich 1993 während meines Auslandssemesters an der juridischen Fakultät von Palermo unterstützt, quittierte vor 15 Jahren ihren Anwaltsjob in Palermo und übersiedelte nach Lampedusa.

Wie ich später erfuhr, war die Frustration über die Wirkungslosigkeit ihrer Anti-Mafia-Aktivitäten Grund für diesen Schritt. Sie wollte endlich weg von der Politik und hatte nicht damit gerechnet, sich ausgerechnet auf dem entlegenen Lampedusa als Aktivistin im Zentrum der europäischen Politik wiederzufinden.

Lampedusa ist vor allem Hafen, durch ihn lebt die Insel, er ist ihr Herz. Die Fähren und Schnellboote aus Porto Empedocle legen im östlichen Teil des Hafens, im "porto vecchio", an. Im westlichen "porto nuovo" liegen Ausflugsboote für Touristen oder Yachten der Besucher, die in den Sommermonaten die Zahl der knapp sechstausend Einwohner um das nahezu Doppelte überschreiten.

Ein normaler Hafen einer Mittelmeerinsel, der jetzt aber nach den Vorstellungen des italienischen Innenministers Matteo Salvini nicht mehr nur einen alten und einen neuen Teil haben, sondern auch als "porto aperto" und "porto chiuso" unterschieden werden soll.

Geöffnet bleiben soll der Hafen für den Tourismus und die Fischerei, die gemeinsam das Überleben der Insel sichern. Geschlossen werden soll nach diesem Konzept der Hafen aber für die Bootsflüchtlinge, die seit Jahrzehnten die sonst beschauliche Insel in die internationalen Schlagzeilen bringen.

Phantomlandungen

Wenig beachtet wurde, dass selbst während der Auseinandersetzung zwischen Innenminister Salvini und der deutschen NGO Sea-Watch über deren von der 31-jährigen Kapitänin Carola Rackete gesteuertes Schiff laufend Flüchtlinge in kleinen Booten ungehindert in Lampedusa landeten.

Die "sbarchi fantasma" (frei übersetzt: "Phantomlandungen", weil sie schlicht ignoriert werden) genannten Ankünfte widerlegen täglich das Konzept der geschlossenen Häfen als undurchführbar. Und auch Salvini hat nach der Landung des Segelschiffes Alex der NGO Mediterranea nur eine Woche nach seinen wüsten Drohungen gegen Rackete auf ähnliche Angriffe verzichtet und zur Kenntnis genommen, dass die Politik dem Recht folgt.

Der Idee geschlossener Häfen treten auf politischer Ebene vor allem die Bürgermeister der zwei größten süditalienischen Hafenstädte, Neapel und Palermo, entgegen. Leoluca Orlando verabschiedete bereits 2015 die symbolische "Charta di Palermo", die jeden Mensch, der nach Palermo kommt, zum Bürger dieser Stadt erklärt, unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

Und Luigi de Magistris hat klargestellt, dass Neapel immer ein offener Hafen bleiben wird, und bereits über eine eigene neapolitanische Flotte nachgedacht, deren Aufgabe sein soll, Bootsflüchtlinge in den sicheren Hafen Neapel zu begleiten. De Magistris, ein ehemaliger Staatsanwalt, hat sich auch zur juristischen Verantwortlichkeit von Carola Rackete geäußert und die Meinung vertreten, dass nicht ihr, sondern den für den Versuch, Häfen zu schließen, Verantwortlichen der Prozess zu machen ist.

Nicht zufällig beschimpfte Salvini jene Richterin des Gerichtes in Agrigento, die den Antrag auf Untersuchungshaft gegen Carola Rackete abgewiesen hatte, in deftigen Worten als eine der "beschissene Kommunistenrichter" ("giudici comunisti di merda").

Auch bei seinen Angriffen auf Rackete durfte dieser Hinweis nicht fehlen, er fürchte sich nicht vor einer reichen deutschen Kommunistin, erklärte er nach Bekanntwerden der Verleumdungsanzeige Racketes gegen ihn, um damit das unter seinen Anhängern so beliebte Feindbild zu bedienen. Politiker mit derart gepflegten Umgangsformen und offener Missachtung rechtsstaatlicher Entscheidungen wollen also die Zukunft Europas bestimmen.

Teil des Alltags

Weitgehend unbeeindruckt von diesen Auseinandersetzungen bleiben die Lampedusani, für die die Ankünfte der Migranten Teil des Alltags geworden sind. Ihre Haltung ist von den für sie selbstverständlich geltenden Regeln auf hoher See sowie den Erfahrungen der Rettung von Menschenleben und des Bergens von Leichen aus dem Meer geprägt.

Eindrucksvoll in Worte fasste diese Erfahrungen der Optiker von Lampedusa in dem gleichnamigen Buch von Emma Jane Kirby. Er ist Optiker, kein Lebensretter, ist im Prolog zu lesen. Am 3. 10. 2013 wird er unfreiwillig zum Lebensretter, als er während eines Bootsauflugs mit sieben Freunden auf um ihr Leben schreiende und zwischen Leichen schwimmende Menschen trifft, von denen letztlich siebenundvierzig gerettet werden können.

Die Albträume nach diesem Ereignis lassen ihn nicht mehr los. Das Meer, das er nach seinen Angaben zum Leben braucht und ihn erst nach Lampedusa gebracht hat, hat auf dramatische Weise dieses, sein Leben verändert.

Pietro Bartolo war viele Jahre als Leiter des Policlinico von Lampedusa für die medizinische Erstversorgung der Migranten verantwortlich und ist seit kurzem Abgeordneter des Europäischen Parlaments.

Er hat seine Erfahrungen in Gesprächen mit der Journalistin Lidia Tilotta verarbeitet und macht deutlich, wie selbstverständlich die Hilfe, die zuvor auf dem Meer gewährt wurde, auch nach der Ankunft im Hafen fortgesetzt wird, bevor staatliche Einrichtungen den Geretteten ein anderes Gesicht Europas zeigen.

Dröhnendes Schweigen

Die Schilderungen Bartolos zeigen, wie oft das Überleben eine Frage des Zufalls ist, insbesondere bei schwierigeren Behandlungen, für die ein Weitertransport nach Sizilien notwendig ist, der nicht immer gewährleistet ist. Aber auch Bartolo lässt keine Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Handelns offen, weil jedes gerettete Leben jeden Einsatz und jeden Schmerz im Falle des Misserfolgs rechtfertigt.

Carola Rackete hat nicht nur die Berechtigung humanitären Handelns bewiesen, sie hat auch die Fragen der Seenotrettung und der europäischen Verantwortung von Lampedusa nach Norden getragen und kontroversielle Auseinandersetzungen ausgelöst.

Während die politischen Reaktionen erwartbar ausfielen, ließ Siemens-Chef Joe Kaeser aufhorchen, indem er nach der Festnahme Racketes auf Twitter die Meinung vertrat, dass Menschen, die Leben retten, nicht verhaftet werden sollen.

Umgehend wurde er vom Managementberater Reinhard Sprenger zurechtgewiesen, der ihm ausrichtete, dass der Tweet zu einer Moralisierung beitrage, die sich in der westlichen Gesellschaft wie ein Spaltpilz ausbreite, und es Aufgabe von Managern sei, das Geld, das ihnen nicht gehöre, zu verwalten. Um anderes mögen sich Kirchen und Politik kümmern.

So verständlich die Sorge von Managementberatern über selbstständig denkende und eine eigene Meinung vertretende Manager sein mag, ist doch vor allem das dröhnende Schweigen anderer Führungskräfte in der Wirtschaft verstörend.

Politik an Land

Da es sich bei der Rettung von Menschenleben aber keinesfalls um Moralisierung handelt, folgen die Lampedusani weiter ihrem Gewissen und den auf hoher See geltenden Regeln. Demnach ist allen in Not geratenen Menschen zu helfen, Fragen nach der Ursache der Not werden nicht gestellt. Das Erreichen eines sicheren Hafens ist einziges Ziel der Hilfe. Darüber herrscht auch Einigkeit zwischen Einsatzkräften und Helfern auf dem Meer und in Lampedusa.

Politik wird an Land gemacht, auf dem Meer wird nicht unterschieden nach Herkunft, Geschlecht oder politischer Überzeugung. "Pe'mmare nun ce stanne taverne" ("Auf dem Meer gibt es kein Schutzhaus"), lautet ein Sprichwort auf Ponza, einer anderen italienischen Insel. Wer auf dem Meer unterwegs ist, muss selbst zurechtkommen, eine Einkehr ist nicht möglich, helfen können allenfalls andere Boote.

Diese Prinzipien werden auch an die Kinder, die das Meer nur von Wochenendausflügen oder den Ferien kennen, weitergegeben. In Lampedusa sind die Freizeitmöglichkeiten beschränkt, Bootsausflüge und damit Aufenthalte auf hoher See gehören zum Alltag.

Die vor der Küste Afrikas gelegene Insel wurde erst 1842 von der Familie Tomasi di Lampedusa an das Königreich beider Sizilien verkauft, das 1843 durch die Entsendung von 120 Beamten, Handwerkern und Bauern mit dem Versuch begann, die wirtschaftlichen und politischen Interessen des Königs Ferdinand II. von Neapel durchzusetzen.

Zu diesem Zeitpunkt lebten rund 2000 Menschen auf der Insel. Der Fischfang begann erst eine Rolle zu spielen, nachdem die Neuankömmlinge die bewaldete Insel beinahe vollständig gerodet hatten, um Holzkohle zu exportieren.

Verständnis für Unerwünschte

Die veränderten Lebensbedingungen und die Nutzung der Insel als Ort für Verbannte führten am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer bemerkenswerten Migrationsbewegung. Bisherige Bewohner verließen die Insel Richtung Nordafrika, wo sie sich bessere wirtschaftliche Voraussetzungen erhofften. Gleichzeitig trafen von der Verbannung betroffene Kriminelle, Mafiosi oder politisch Unliebsame auf der Insel ein.

Die heutige Bevölkerung hat daher sehr unterschiedliche Ursprünge, eine tiefere Verbundenheit durch eine gemeinsame lange Geschichte besteht nicht. Das Verständnis der Nachkommen ehemaliger Verbannter für die im 21. Jahrhundert Unerwünschten ist aber größer als anderswo.

"Carola Rackete hat die Fragen der Seenotrettung und der europäischen Verantwortung von Lampedusa nach Norden getragen und kontroversielle Diskussionen ausgelöst."
Foto: Wilfried Embacher

Verbunden sind die Lampedusani durch das gemeinsame Bewältigen der schwierigen Lebensbedingungen, denn die besonderen Verhaltensregeln auf hoher See gelten nahezu uneingeschränkt auch an Land, das in den Wintermonaten bei Schlechtwetter auch länger nicht erreichbar sein kann.

1992 kamen die ersten Flüchtlingsboote aus Nordafrika. In den ersten Jahren erfolgte die Versorgung der Ankommenden unorganisiert, getragen von der selbstverständlichen Hilfsbereitschaft der Lampedusani. Für die in den Jahren 2001 bis 2003 erbrachte Hilfe wurde der Gemeinde Lampedusa und Linosa am 2. Juli 2004 vom damaligen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi die Goldene Medaille für zivile Verdienste verliehen.

Dennoch sah sich auch der italienische Staat zum Handeln gezwungen und richtete zunächst ein Aufnahmezentrum am Flughafen ein, in weiterer Folge wurde eine ehemalige Kaserne für diesen Zweck umgebaut. Heute wird diese Einrichtung Hotspot genannt, die Ankommenden verbleiben in der Regel nur kurz und werden in italienische Aufnahmezentren weitergebracht.

Die ständig steigende Zahl der Bootsflüchtlinge führte 2009 zu Protesten der Lampedusani, die sich gegen die chronische Überfüllung des Aufnahmezentrums bei gleichzeitigem Verbleib der Angehaltenen auf der Insel richteten. Nach weiter steigenden Ankunftszahlen im Jahr 2011 musste die Bevölkerung die Versorgung der Ankommenden übernehmen, die staatlichen Einrichtungen waren heillos überfordert.

Noch heute wundern sich die Lampedusani darüber, dass damals eine Krise verneint wurde, diese aber jetzt bei im Vergleich zu 2011 lächerlich geringen Ankunftszahlen herbeigeredet wird. Seit dem ersten dokumentierten Bootsunglück mit 21 Toten im Jahr 1996 gehören Berichte über das oder Erfahrungen mit dem Ertrinken auf dem Weg nach Europa zum Alltag der Lampedusani.

Zahlreiche Fischer und Bootsausflügler bargen selbst Lebende und Tote aus dem Meer, Landungen an den wenigen zugänglichen Stellen an der Südküste führen immer wieder zu unerwarteten Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen sowie Touristen.

Identifikation des Publikums

Es sind Touristen, die mittlerweile – wie Carola Rackete – auch aus Deutschland kommen, wo von 2005 bis 2009 sehr erfolgreich eine der ersten Telenovelas mit dem Titel Wege zum Glück ausgestrahlt wurde. Vermutlich empfahlen einflussreiche Managementberater die Produktion der letztlich 789 Folgen, weil die Identifikation des Publikums mit der Suche nach den Wegen zum Glück besonders stark war.

Das Streben nach Glück ist ein zutiefst menschliches Verhalten, daher waren auch frühe menschenrechtliche Konzepte davon geprägt, jedem Menschen das Recht auf ein glückliches Leben zu ermöglichen.

Von solchen Überlegungen hat sich das Europa des Jahres 2019 längst verabschiedet, es gilt als unbestrittene Mehrheitsmeinung, dass Menschen ihr Weg zum Glück verunmöglicht werden muss, auch wenn es sie das Leben kostet.

Dennoch erstaunt, mit welcher Leichtigkeit auch das durch Art 3 EMRK garantierte Recht auf Leben mittlerweile infrage gestellt wird, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits 2012 entschied, dass eine Rückführung nach Libyen die Betroffenen unter anderem in ihrem Recht auf Leben verletzt (Hirsi Jamaa u. a. gegen Italien, Urteil vom 23. 2. 2012, 27765/09).

Staaten, die die Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, dürfen also niemanden nach Libyen bringen. Ungeachtet dessen wird genau diese Forderung immer wieder als ein Argument gegen die Landung auf Lampedusa und als rechtmäßige Alternative erhoben.

Unbekannte Tote

Zumindest die Lampedusani wissen aber, dass die Boote weiter aus Nordafrika abfahren werden und es nicht zu ihrem persönlichen Glück beiträgt, wenn andere Menschen in ihrem Meer ertrinken oder in libysche Folterlager gebracht werden. Auch den Tendenzen der Erniedrigung durch Missachtung des Wertes eines Menschenlebens widerstehen sie und haben begonnen, die Erinnerung an die Verstorbenen zu pflegen.

Im "porto vecchio" werden auf Booten gefundene Gegenstände ausgestellt und auf dem Friedhof ist den unbekannten Toten ein eigener Teil gewidmet. Europa könnte sich seiner humanitären Werte besinnen, statt auf die interessengesteuerten Vorschläge der Managementberater zu hören.

Bis dahin werden auf Lampedusa die Passagiere der Schnellboote der Liberty Line zwar weiterhin herzlich willkommen geheißen werden, die aus Afrika kommenden und nach europäischer Freiheit strebenden Menschen hingegen als unerwünscht direkt im Hafen, der sich nicht schließen lässt, festgenommen und in den Hotspot überstellt werden.

Paola behält recht. Das Meer um Lampedusa erfrischt den Geist, die unzählbaren Toten sind Mahnung gegen die Gleichgültigkeit und Auftrag, das Sterben im Mittelmeer zu beenden. (Wilfried Embacher, 24.8.2019)