Bild nicht mehr verfügbar.

"Ich bewege mich an der Peripherie – ein guter Platz für einen Künstler, wenn auch ein einsamer": Elif Shafak.

Foto: Picturedesk / Jay Williams / Camera Press

STANDARD: Elif Shafak, in Ihrem neuen Roman schreiben Sie von Menschen am Rand der Gesellschaft, von Prostituierten, Transsexuellen und Immigranten. Was hat sich in den letzten Jahren für diese Gruppen verändert?

Shafak: Die Gay Pride wurde bereits viermal hintereinander verboten, die Trans Pride mit Tränengas und Gummigeschossen von der Polizei gestoppt. Es ist gar nicht so lange her, da war Istanbul das Hoffnungszentrum für sexuelle Minderheiten, für den gesamten Nahen Osten – die einzige muslimische Stadt mit einer Schwulenparade. Ich bin selbst einige Male mitmarschiert. Es fühlte sich an, als wäre der Fortschritt unaufhaltsam.

STANDARD: Sie klingen resigniert.

Shafak: Sehen Sie, ich habe an der Middle East Technical University in Ankara studiert, dort gibt es eine große LGBT-Gruppe. Diese Studenten wurden kürzlich auf dem Campus von der Polizei abgeführt, weil sie für Vielfältigkeit demonstrierten. Ihr Verbrechen bestand darin, sich für die Liebe einzusetzen, zu zeigen, wer sie sind.

STANDARD: Sie leben mit Ihrer Familie im Ausland, vor zehn Jahren bereits sind Sie nach London gegangen.

Shafak: Eine Zeitlang habe ich überlegt, nach Berlin zu ziehen. Wäre ich in der Lage gewesen, die Sprache zu verstehen, hätte ich das getan. Berlin fasziniert mich nach wie vor, die kulturelle Energie ist groß.

STANDARD: Wir treffen uns in einem Berliner Hotel am Bahnhof Zoo. Ganz in der Nähe, am Kurfürstendamm, haben Sie 2005 Ihren Mann geheiratet.

Shafak: Damals war ich Fellow am Wissenschaftskolleg, wo Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler zusammengebracht werden. Ich bin kein Freund von großen Zeremonien, von Hochzeitskleidern. Ich habe ein normales schwarzes Kleid zu unserer Hochzeit getragen. Wir haben ein schönes Essen mit unseren Freunden gehabt, gemeinsam Wein getrunken und uns viele Reden angehört.

STANDARD: Danach mit Hupkonzert über den Ku'damm?

Shafak: Nein, ganz bestimmt nicht.

STANDARD: Hatten Sie damals Kontakt mit Deutschtürken?

Shafak: Es gehört zu meinen herzlichsten Begegnungen, als ich nach einer Lesung hungrig in ein Dönerlokal gegangen bin, der türkische Kellner mich erkannte und nur für mich ein vegetarisches Gericht zusammenstellte, weil ich damals kein Fleisch aß. Er hat mir keinen Cent dafür berechnet.

STANDARD: In der Türkei werden Sie gerade nicht sehr freundlich empfangen. Meiden Sie Ihr Heimatland?

Shafak: Ich fühle mich den Menschen dort sehr verbunden. Im Ausland lebe ich seit mehr als zehn Jahren. Das ist nicht neu. Neu ist, dass ich mich nicht mehr wohlfühle, zurückzukehren, weil es keine Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit gibt. Ich lebe in einer Art Exil. Es gibt auch viel Intoleranz, zum Beispiel habe ich nach meinem Ted-Talk viel Diffamierung und Beleidigungen erlebt.

STANDARD: Darin sprachen Sie erstmals über Ihre Bisexualität. Lange wollten Sie das nicht, ausAngst vor Beschimpfungen, Stigmatisierung und Hass.

Shafak: Und genau das ist eingetreten. Sieben oder acht Wochen lang gab es in den türkischen Medien und in den sozialen Netzwerken alle möglichen negativen Kommentare. Voller persönlicher Beleidigungen. Es war sehr schwierig, das durchzustehen.

STANDARD: Hat Sie das überrascht?

Shafak: Nein, ich kenne mein Heimatland. Das Ausmaß fand ich jedoch erschreckend. Zeitungskolumnisten nannten mich eine Perverse, Ultranationalisten beschimpften mich, Islamisten beleidigten mich in sozialen Netzwerken. Das Problem ist, dass in der heutigen Welt meistens die Fanatiker brüllen, die Demokraten flüstern unterdessen.

STANDARD: Haben Sie sich vorher mit Ihrer Familie abgesprochen?

Shafak: Mein Mann und meine engen Freunde haben mich immer unterstützt, obwohl sie wussten, wie unangenehm es werden könnte. In meinen Romanen habe ich mich oft mit LGBT- und Frauenrechten beschäftigt. In der Öffentlichkeit bin ich als Verteidigerin aufgetreten, aber ich hatte nie den Mut zu sagen: Das ist auch meine Geschichte.

STANDARD: Ihre Bücher schreiben Sie auf Englisch, weil Sie, wie Sie selbst sagen, den Humor und die Mathematik dieser Sprache schätzen.

Shafak: Vielleicht sollte ich es so formulieren: Wenn meine Texte Melancholie, Kummer, Traurigkeit oder Sehnsucht zum Thema haben, finde ich es einfacher, sie auf Türkisch zu verfassen. Geht es um Humor, ist das viel leichter auf Englisch. Und meine Bücher haben hoffentlich diese leichte britische Ironie.

STANDARD: Türkische Wort könnte man schwer ins Englische übersetzen?

Shafak: Gurbet. Viele Deutsche können mit diesem Wort etwas anfangen. Es bedeutet so viel wie Heimweh, auch wenn es diese Übersetzung nicht ganz trifft. Du bist an einem seltsamen Ort, im Exil, weit weg von zu Hause, und Sehnsucht sowie eine Spur Einsamkeit schwingen mit. Du stehst am Rande, bist eine seltsame Figur.

STANDARD: Das könnte gut Ihr Selbstverständnis umschreiben.

Shafak: Ja, ich bewege mich an der Peripherie, im Dazwischen. Einerseits bin ich Teil der Masse, gerade genug, um mich einem Ort zugehörig zu fühlen. Andererseits fühle ich mich als Außenseiterin, um die Dinge mit kritischem Abstand zu betrachten. Ein guter Platz für einen Künstler, jedoch auch ein einsamer.

STANDARD: Wann hat das begonnen, dass Sie sich so sahen?

Shafak: Immer wenn es um meinen Vater ging. Er verließ meine Mutter, als ich sehr klein war. Ich wuchs auf, ohne ihn oft zu sehen. Später erfuhr ich, dass er ein sehr guter Vater war.

STANDARD: Auf Türkisch schreiben Sie nur noch, wenn Sie für Rockmusiker texten.

Shafak: Einen Text habe ich für Teoman verfasst, den ich für einen außergewöhnlichen Sänger halte. Ich selbst mag eher Musik, die nur wenige hören. Die Leute denken, ich würde eher sanfte Musik mögen, weil in meiner Literatur Mitgefühl durchscheint. Tatsächlich höre ich laute, aggressive Musik. Industrial, Metal, viel skandinavisches Zeug. Eine Lieblingsband ist Nightwish, eine finnische Gruppe, die Gothic Metal spielt.

STANDARD: Schreiben Sie doch für eine türkische Metalband!

Shafak: Warum nicht? Jede Sprache eignet sich für jede erdenkliche Musikrichtung. Rap funktioniert letztlich auch in allen Sprachen. Meine ersten Romane habe ich noch auf Türkisch verfasst, um die Grenzen der Sprache zu erweitern. Wie alles andere in der Türkei bekam das sofort eine politische Dimension. Wir haben unsere Sprache türkifiziert, als Atatürk 1923 die Republik gründete.

STANDARD: Das heißt, arabische Lehnwörter wurden nicht mehr verwendet.

Shafak: Wenn du progressiv und ein Liberaler bist, sollst du bitte nur moderne Wörter benutzen. Keine alten, an denen hängen nur Konservative oder Religiöse. Ich als Schriftstellerin denke, wir brauchen sowohl die neuen als auch die alten Wörter. Es ärgert mich, dass ich im Türkischen gelb und rot sagen kann, es für die Zwischentöne aber keine Bezeichnungen mehr geben soll. Denn die stammten aus dem Persischen. Wenn Sie sich ein osmanisches Wörterbuch anschauen, werden Sie feststellen, dass es ziemlich dick ist. Ein modernes türkisches Wörterbuch ist nur halb so groß.

STANDARD: Wo haben Sie die alten Wörter gelernt?

Shafak: Ich habe Türkisch nie als etwas Selbstverständliches betrachtet. Meine Mutter arbeitete als Diplomatin. Daher lebten wir in den 70er-Jahren einige Zeit in Madrid. Als ich mit 15 zurückkam, war mein Türkisch zurückgeblieben. Ich verstand Witze oder Slangbegriffe nicht. Ich kaufte ich mir ein Notizheft und begann, Begriffe zu sammeln, Phrasen aufzuschreiben, Türkisch zu studieren. Über die Jahre habe ich damit weitergemacht.

STANDARD: Schmerzt es Sie, nicht mehr nach Istanbul zu reisen und solche Erfahrungen zu machen?

Shafak: Ich vermisse die Stadt sehr. Die Möwen, den Salzgeruch in der Luft, die Menschen, die Straßen, die Graffiti. Ich habe immer Graffiti gesammelt, als ich noch dort lebte. Hunderte, wenn nicht Tausende von Sprüchen an der Wand. Das war die Inspiration für meinen Roman Der Bonbonpalast, wo ich all die verschiedenen Schriftzüge über Abfall verwendet habe. Wenn Sie sich in einem eher konservativen Stadtteil wie Fatih aufhalten, steht da etwa: "Werfen Sie Ihren Müll nicht hier hin. Allah mag keine dreckigen Menschen." In einem Bohemeviertel wie Beyoglu war so eine Aufforderung stattdessen gewitzter und mit sexuellen Anspielungen gewürzt.

STANDARD: Dort haben auch Sie lange gelebt.

Shafak: In der Straße der Kesselflicker, die steil vom Taksim-Platz nach unten führt. Früher wohnten dort vor allem Juden und Christen: Armenier, Griechen. Viele gingen nach 1955 weg, weil ein nationalistischer Mob die Läden angezündet hatte und die Christen sich nicht mehr wohl in der Gegend fühlten. In den 70er-Jahren zogen Transgender und andere sexuelle Minderheiten in das Viertel. Und in den späten 1990er-Jahren, als auch ich dort hinkam, folgten die Bohemiens.

STANDARD: Einer Ihrer Nachbarn war damals ein älterer armenischer Transvestit.

Shafak: Menschen wie er waren Überreste der Vergangenheit. Ich dachte mir: Das ist keine Straße, das ist ein Schiff, wir alle sind Passagiere, morgen werden wir wieder von Bord gehen, und jemand anders wird einziehen. Aber von jedem bleibt etwas zurück. Und mein Job als Geschichtenerzählerin ist es, nach den Überresten zu suchen.

STANDARD: Ihr neuer Roman spielt unter anderem in der Straße. Kommt darin etwas vor, was Sie dort erlebt haben?

Shafak: Als ich dort wohnte, gab es einen konservativen religiösen Lebensmittelhändler, der auch im Buch vorkommt. Er verkaufte keinen Alkohol, keine liberalen Zeitungen, und er weigerte sich, mit Transgendermenschen zu sprechen. Im Jahr 1999 gab es ein Erdbeben in Istanbul, bei dem in wenigen Minuten 10.000 Menschen starben. Die Leute flüchteten um drei Uhr nachts aus ihren Häusern. Plötzlich sah ich diesen Händler, wie er auf dem Bürgersteig neben einem Transgender hockte. Beide waren völlig aufgewühlt, sie weinte, ihre Schminke zerlief – und er bot ihr eine Zigarette an. Im Angesicht des Todes war für ein paar Stunden jeder gleich. (Ulf Lippitz", 24.8.2019)