"Ein Ei fühlt sich komisch an. Es scheint keine Schale zu haben, und es lässt sich wie ein Gummiball drücken. Trotzdem bleibt das Innere innen. Verhält es sich mit Tagebüchern ähnlich?"

Foto: Schlembach

Geträumt vom Dschungel. Ein Haus überwachsen von der Zeit. Wurzeln dringen durch die Gemäuer. Ich weiß, SIE wartet auf mich, aber ich finde niemanden. Unruhe, die zur Gefangenschaft wird.

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Bevor die Welt über mir zusammenbricht, schreibe ich die Bilder der Nacht aus meinem Kopf. Jetzt erhellt noch jedes Wort die schwarze Bühne des Geistes (schöpfen!). Danach ist es nur noch ein Verwalten von Tatsachen (zeugen!).

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Der Hund schnarcht neben mir. Die Katzen liegen auf dem Fensterbrett, und ein Huhn auf Freigang durchpflügt den Rindenmulch unter den Weinreben. Auf der Landstraße ziehen Autos vorbei. Mit etwas Fantasie stelle ich mir das Meer und das Geräusch aufschlagender Wellen vor, während der Duft von Kunstdünger in der Luft liegt.

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Als Schreibtisch dient mir das umfunktionierte Gusseisengestell einer alten Singer-Nähmaschine. Nach ihrer Schneiderinnenlehre hat sie meine Mutter kaum noch gebraucht und sich für die Familie aufgegeben. Durch leichtes Wippen bringe ich das Antriebsrad in Schwung, das sich ins Leere dreht. Nichts anderes ist Schreiben, denke ich.

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Sieben Uhr. Die Unruhe des Morgens beginnt. Meine Eltern sind bereits seit einigen Tagen mit der Transsibirischen Eisenbahn quer durch ein fremdes Land unterwegs, und ich bin allein am Bauernhof. Den halben Vormittag verbringe ich mit den üblichen Routinen: Tiere füttern und am Ortsfriedhof den Hausmeister spielen.

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Erst letzte Woche – an den heißesten Tagen des Jahres – musste ich drei Löcher hintereinander schaufeln. Laut Statistik wird jetzt für eine Weile Ruhe einkehren. Die Annahme, dass es unter der Erde kühler ist, sollte überdacht werden. In über zwei Metern Tiefe herrschte eine Luftfeuchtigkeit wie im Regenwald, verbunden mit einem unerträglichen Gestank. Zum Glück grub ich dreimal durch Sand.

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Nachdem ich die Mülleimer entleert und unser Familiengrab gegossen habe, tritt eine alte Frau auf mich zu und bittet darum, dass ich die Kränze und Buketts von ihrer Ruhestätte räume. Bei dieser Saharahitze sind die Blumengestecke nach wenigen Tagen verwelkt, und der Pappelsarg hat bereits nachgegeben. Die Grabeinfassung fülle ich mit drei Scheibtruhen Erde auf und ziehe sie mit einem Rechen gleich.

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Vom Wirtshaus meines Onkels hole ich den Bioabfall. Zurück am Hof, warten die 79 Hühner (exklusive dreier Hähne) aufgeregt vor dem Eingang ihres Freilaufgeheges. Ich schütte den grauen Kübel aus, und sie stürzen sich auf die Essensreste: Kartoffelschalen, Schnitzel, Teigtaschen und Backhendl. Jedes Mal bin ich erstaunt, wie sie ekstatisch lospicken und dabei vor nichts haltmachen. In wenigen Minuten ist alles bis auf die Knochen weg. Sollte ich jemals einen Mord planen, ist die Kombination aus einer Armee von Allesfressern und die Arbeit als Totengräber eine kaum zu überbietende Kombination diskreter Leichenentsorgung. Vielleicht ein Krimi irgendwann?

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Eine Henne liegt tot unter dem Nussbaum. Seitdem wir von einem Maschendrahtzaun zu einer solideren Variante mit Grundfestung umgestiegen sind, halten sich unsere Verluste durch Fuchsattacken in Grenzen, aber das Buffet für Greifvögel und Marder ist weiter eröffnet. Hier hat es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen natürlichen Tod gehandelt, und ich werfe das Huhn auf den Misthaufen, der im Spätsommer als Düngemittel auf den Feldern verstreut wird.

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Als Kind hatte ich meinen Vater einmal dabei beobachtet, wie er eine Henne schlachtete. Mit einem einzigen Hieb köpfte er es in der Futterküche, und der Korpus zuckte einige Sekunden so wild, dass die weiße Wand zu einem expressionistischen Blutgemälde wurde. Nachdem endlich der Tod eingetreten war, tauchte Großmutter das Huhn in kochendes Wasser und rupfte die braunen Federn gegen den Strich. Bis heute kann ich den Dampf auf meiner Haut und den metallenen Geruch nicht vergessen.

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Zehn Uhr. Endlich schreiben. Aber worüber? Seit längerer Zeit fühle ich mich ausgebrannt und begnüge mich mit sinnlosem Alltagsgestammel, um die Seiten zu füllen. Ich breche ab und lese weiter in den Tagebüchern von Gerhard Fritsch.

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Die Illusion ist doch, dass diese Worte für keine Öffentlichkeit geschrieben sind. Ist das möglich? Ich bezweifle es. Authentizität ist ein Mythos für Menschen ohne Vorstellungskraft. Das Ich möchte Wurzeln schlagen, aber die Sprache bleibt Treibsand.

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Langeweile. Ich starre auf mein Telefon und warte, bis etwas passiert. Ein Toter – und vielleicht geht sich das Meer noch aus.

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Es klingelt. Der Bestatter ruft an. Nein, kein Sterbefall. Seine Schwiegermutter braucht vierzig Eier, um für ein Geburtstagsfest zu backen.

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Ich nehme einen Korb und gehe hinüber zum Stall. Damit mich ihr Schnabel nicht erwischt, greife ich von hinten unter das brütende Huhn und versuche, die Belästigung im Rahmen zu halten. Ein Ei fühlt sich komisch an. Es scheint keine Schale zu haben, und es lässt sich wie ein Gummiball drücken. Trotzdem bleibt das Innere innen. Verhält es sich mit Tagebüchern ähnlich?

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Nach meiner Lieferung beim Bestatter, der bei einem Kaffee und einer Kardinalschnitte über das Sommerloch geklagt hat, treibe ich den faulen Hund auf, um mit ihm eine Runde zu gehen. Wir überqueren unseren Acker und den direkt angrenzenden Lagerfriedhof, in dem mehr als 10.000 Sowjetsoldaten liegen. Die Wiese ist übersät von Maulwurfhügeln und sieht aus wie das Gesicht eines Pubertierenden. Vom Militärhundezentrum bellen die jungen Rottweiler. In ein paar Tagen wird die Bundeskanzlerin für einen Medientermin anreisen und Patenschaften übernehmen.

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Am Waldesrand kommen wir zu den Ruinen eines Wirtshauses. Als der Betreiber erstochen wurde, weil ein Gast seine Zeche nicht zahlen konnte, musste es geschlossen werden. Der Hund bleibt stehen. Er möchte heute einen anderen Pfad einschlagen, aber ich zwinge ihn jeden Tag, mit mir dieselben Wege zu gehen: Vorbei am Gedenkstein für einen Forstpraktikanten, der 1934 an dieser Stelle tot aufgefunden wurde. 19 Jahre jung! War es Liebe? Dreihundert Meter weiter ein Denkmal für einen Jäger, der 1918 "in ehrvoller Pflichterfüllung meuchlings erschossen wurde". Und wieder zurück zum Friedhof, der langsam vom Wald überwachsen wird. Ich weiß, meine Geschichten liegen hier vergraben, aber mir fehlt die Sprache noch, um sie aus der Erde zu reißen.

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"Wenn die Theorien klar sind, wird die Praxis dunkel", heißt es bei Fritsch. Je länger ich in seinen Aufzeichnungen lese, desto vertrauter wird mir seine geistige Landschaft, und ich möchte, dass sie nicht endet.

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Später Nachmittag. Ich habe einen Termin beim Facharzt, um zu sehen, ob es die erhoffte Spontanheilung meiner Lungenkrankheit gab. Auf dem Weg halte ich bei der örtlichen Tankstelle. Einige Gestalten sitzen im rauchgefüllten Raum an der Theke. Gerüchteweise werden hier mehr Liter Bier als Treibstoff verkauft. Der Tankwart taumelt zur Zapfsäule. Während er den Schlauch zu positionieren versucht, muss ich ihm helfen, sein Gleichgewicht zu halten.

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Wir alle im Dorf tragen Masken. Nur einmal im Jahr fallen die Hüllen, und eine kollektive Hemmungslosigkeit setzt ein: Fasching! Dort, wo in der Kostümierung die Wahrheit zur Kenntlichkeit entstellt wird, entladen sich die aufgestauten Sehnsüchte. Es ist der Stoff, aus dem die Tragödien und Komödien gemacht sind.

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Unerträgliche Hitze im Wartezimmer. Ich bekomme kaum Luft und lese weiter bei Fritsch. Nach jedem Satz fallen meine Augen zu, und ich beende sie im Unbewussten mit meinen eigenen Wendungen.

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Es sind die immer gleichen Träume über den Tod. Ich grabe so tief, dass ich es allein nicht mehr aus dem Loch schaffe und die Wände über mir zusammenbrechen. Mir fehlt der Atem, und ich habe panische Angst vor der Enge, die mir die letzte Freiheit raubt.

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Ich werde aufgerufen und trete ins Ärztezimmer. Ein etwas stärkerer Mann sitzt vor mir. Er wirkt gemütlich und hat ein freundliches Gesicht. Nachdem ich mein T-Shirt ausgezogen habe, hört er mich ab und stellt mich im gegenüberliegenden Raum vor eine Röntgenwand. Ein Schatten, der einem Schmetterling gleicht, liegt auf meiner Lunge. Poetischer lässt sich nicht sterben, denke ich.

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Zurück im Büro, erklärt mir der Arzt, dass der Schatten größer geworden sei. Er breitet sich langsam aus und vergräbt meine Lungenbläschen, bis sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen können. Ist das der medizinische Beweis des Totengräbers in mir? Aus einem Reflex, der alles dem Tod Zugehörige ins Lächerliche ziehen möchte, arbeite ich an pointierten Formulierungen in meinem Kopf, statt der vorgeschlagenen Therapiemöglichkeit zu folgen.

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Auf dem Weg nach Hause fühle ich eine seltsame Erleichterung. Durch die Diagnose gibt es plötzlich einen Grund für meine Melancholie und diesen Weltschmerz, den ich bis dahin als reine Einbildung abtun musste. Ich bin nicht wahnsinnig und kein Lebensüberdrussfanatiker, sondern einfach krank. Irgendetwas frisst mich von innen auf. Es ist keine Floskel mehr, die ich schon hunderte Male in diese Bücher geschrieben habe. Es ist die Wahrheit!

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Abend. Beim dritten Bier stellt sich dieser Hunger nach Leben ein und mich überkommt die Lust zu rauchen. Ich suche nach den Zigaretten meines Vaters. Nur am Wochenende gönnt er sich eine, manchmal zwei. Ich nehme einen tiefen Zug und sehe in diesem plötzlich aufsteigenden Nebel so viele Dinge, die er mir während des Grabens von seinen Reisen erzählt hat: eine einsame Nacht unter dem Eiffelturm. Das Rauchen ist vielleicht seine eigene, kleine Rebellion in aller Gebundenheit an diesen Ort.

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Ich trinke und wische Frauen weg, die sich als Reisende geben. E. schreibt mir, dass sie davon geträumt hat, mich zu küssen, obwohl wir uns noch nie getroffen haben. Ihr hat meine Beschreibung genügt, um die Fantasie anzuregen. Ist vielleicht eine Renaissance der Romantik ausgebrochen in diesen anonymen Liebesspielen aus der Ferne?

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Gegen Mitternacht lege ich mich inmitten des Hofes auf den noch warmen Beton und blicke in den Sternenhimmel, bis mich die Finsternis ganz umhüllt.

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Träume: ja. Erinnerung: keine. Nicht einmal ein Gefühl. Und doch zu wissen, irgendetwas war. (Mario Schlembach, 24.8.2019)