"Neue gesetzliche Richtlinien zugunsten der Opfer": Das fordert Sängerin und "Voice it!"-Initiatorin Elisabeth Kulman.

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Am Sonntag trat Plácido Domingo bei den Salzburger Festspielen auf. Der Startenor ist mit Vorwürfen sexueller Belästigung konfrontiert und erhielt in Salzburg trotzdem Standing Ovations. Elisabeth Kulmann ist eine der engagiertesten Stimmen der Klassikwelt. Als dem Intendanten von Erl, Gustav Kuhn, sexuelle Verfehlungen vorgeworfen wurden, gründete Kulman "Voice it!", einen Ableger von #MeToo. Die Initiative steht laut Kulman für eine "Kultur der Würde, des Respekts und der Gerechtigkeit".

STANDARD: Sie standen auf allen wichtigen Bühnen der Klassikwelt. Wie viel Machtmissbrauch gibt es in der Branche, haben Sie selbst welchen erlebt?

Kulman: Über ein Drittel aller KünstlerInnen sind von Machtmissbrauch betroffen. Das geht aus einer art but fair-Studie aus dem Jahr 2016 hervor. Die Zahl ist höchst alarmierend und weist auf ein massives strukturelles Problem hin. Mit den #MeToo-Fällen wurden dieses Problem erstmals auf dramatische Weise sichtbar. Wichtig dabei zu verstehen ist, dass sexuelle Übergriffe nur eine Spielart des Machtmissbrauchs sind, die eher wenige betrifft, laut Studie etwa fünf Prozent. Wenn jetzt aber die verschont gebliebenen 95 Prozent beginnen, die mutmaßlichen Täter lautstark zu verteidigen, ist das ein Schlag ins Gesicht der Opfer: Sie werden als Lügnerinnen abgestempelt und ein weiteres Mal traumatisiert. Ich kann nur allseits eindringlich um mehr Sensibilität und Einfühlungsvermögen im Umgang mit dem Thema bitten. Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Sexuelle Übergriffe finden statt, nicht nur in der Kirche und in der Politik, sondern auch in der hehren Welt der Kultur.

STANDARD: Aktuell machen acht Sängerinnen und eine Tänzerin Placido Domingo Vorwürfe. Von unerwünschten Umarmungen ist die Rede, von Küssen auf den Mund, von nächtlichen Telefonanrufen und davon, dass Domingo auf private Treffen gedrängt habe. Je nachdem, wie man auf Domingos Avancen reagiert habe, hätte dieser die Karrieren der jungen Frauen befördert oder behindert, heißt es. Wie schätzen Sie diesen Fall ein, haben Sie Erfahrungen mit Domingo?

Kulman: Die Anschuldigungen decken sich mit den Gerüchten, die man intern seit vielen Jahren hinter vorgehaltener Hand erzählt bekommt. Da sie nun öffentlich wurden, stoßen sich viele daran, dass die Anklägerinnen anonym bleiben. Ich verstehe die Angst dieser Frauen sehr gut, möchte aber trotzdem eindringlich ermutigen, aus der Deckung zu treten. Bei uns, in der Causa Kuhn, die ich begleiten durfte, sind die Frauen, fünf an der Zahl, mit einem Offenen Brief an die Öffentlichkeit gegangen, zwar mit schlotternden Knien, aber mit vollen Namen. Das hat den Umschwung in ihrer Glaubwürdigkeit gebracht. Es hat enormen Mut gebraucht, aber der hat sich ausgezahlt. Denn mittlerweile sind Kuhns sexuelle Übergriffe sogar amtlich bestätigt und er suspendiert. Für das eigene Seelenheil und im Sinne der Aufdeckung von Missständen ist es extrem wichtig, dass die Betroffenen aus ihrer Opferhaltung und damit aus der Ohnmacht heraustreten und für ihr Recht kämpfen. Unsere Frauengruppe steht heute selbstbewusst und gestärkt da. Das gemeinsame Schicksal hat sie zusammengeschweißt.

STANDARD: Die Gleichbehandlungskommission im BKA kam zu der Meinung, dass sexuelle Verfehlungen Kuhns stattgefunden hätten. Sie haben angesichts dieses Falls die Initiative "Voice it!", ein #MeToo-Ableger, mit ins Leben gerufen. Wäre der Fall ohne diese Initiative stillgeschwiegen worden?

Kulman: Die Aufdeckung dieses Falles haben wir dem Tiroler Publizisten Markus Wilhelm zu verdanken, der seither von Kuhn, Haselsteiner und Co. In blinder Wut mit insgesamt 18 Klagen eingedeckt wurde – und viele davon übrigens bereits gewonnen hat. "Voice it!" entstand in Solidarität zu Markus Wilhelm und ruft die KünstlerInnen auf, ihre Stimme mutig gegen Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe zu erheben. "Voice it!" steht für eine "Kultur der Würde, des Respekts und der Gerechtigkeit" und ist der konstruktive Ansatz nach #MeToo. Ich betrachte #MeToo als den Schrei eines Kindes, das noch keine Worte für seinen Schmerz hat. Viel Hysterie und Skandalisierung ging damit einher. Jetzt wird es Zeit, den nächsten Schritt zu gehen, nämlich aus der Ohnmacht und Opferhaltung herauszutreten und das Thema mit konstruktiven Lösungsansätzen anzugehen.

STANDARD: In Placido Domingos Fall sollen die angeblichen Vorfälle größtenteils 30 Jahre zurückliegen. Finden Sie es richtig, erst jetzt damit an die Öffentlichkeit zu gehen?

Kulman: Besser spät als nie! Vor 20 oder 30 Jahren wären die Opfer mit ihrer Geschichte niemals durchgekommen. Auch die gegen Harvey Weinstein nicht. Die Zeiten mussten sich erst ändern, um eine offene Diskussion zu ermöglichen. Außerdem wissen wir, dass die Opfer von Machtmissbrauch und Übergriffen sehr lange, oft Jahre und Jahrzehnte, brauchen, um diese Verletzungen und ihre Scham überhaupt zu überwinden und eine Sprache zu finden für das, was ihnen angetan worden ist. Wir stehen ganz am Anfang von #MeToo und haben noch einen langen Weg vor uns.

STANDARD: Domingo hat die Darstellung der Frauen zurückgewiesen. Er will jedoch "anerkennen, dass sich heutige Regeln und Standards von denen der Vergangenheit unterschieden", wie er sagte. Ist so eine Einsicht angesichts der Vorhaltungen nicht sogar mehr wert, als ein mögliches gerichtliches Nachspiel, bei dem häufig nichts übrig bleibt?

Kulman: Ich werte diese Fähigkeit zur Einsicht positiv, vor allem ihm Vergleich zu Kuhns Reaktion, der bis heute alles weglacht und jedes Schuldeingeständnis vermissen lässt. Ein tragischer Fall. Da bin ich bei Placido hoffnungsvoller. Ein Umdenken und neue Modelle sind dringend nötig. Führungskräfte müssen darin geschult werden, Macht mit Verantwortung und Umsicht auszuüben. Es muss ein Korrektiv geben, Aufsichtsräte, die die Macht von IntendantInnen, RegisseurInnen, DirigentInnen auf das angemessene Maß beschränken. Alleinherrschaften wie in Erl müssen verhindert werden. Codes of Conduct sind möglicherweise ein nötiger Zwischenschritt, falls es Unklarheiten gibt, wo Grenzen überschritten werden.

STANDARD: Trotzdem enden viele #MeToo-Gerichtsfälle in Vergleichen oder Ähnlichem.

Kulman: Ja, was die justiziäre Handhabbarkeit betrifft, treffen wir auf große Schwierigkeiten. Sexuelle Übergriffe, ja sogar Vergewaltigungen sind oft schwer nachweisbar, es steht Aussage gegen Aussage, nicht selten endet alles "im Zweifel für den Angeklagten", und das Opfer muss damit leben, dass der Täter frei herumläuft. Auch hier müssten die gesetzlichen Richtlinien zugunsten der Opfer optimiert werden.

STANDARD: Einige US-Konzerthäuser haben Domingo-Konzerte abgesagt, in der Hamburger Elbphilharmonie soll er hingegen auftreten, auch bei den Salzburger Festspielen hält man an den für dieses Wochenende geplanten Konzerten fest. Wie würden Sie vorgehen?

Kulman: Nach meinem heutigen Wissensstand ist es eher unwahrscheinlich, dass von Domingo derzeit Gefahr ausgeht. Deshalb halte ich die Konzertabsagen der US-Häuser und ihre Begründungen für übertriebene Vorsicht. Das Publikum wird selbst entscheiden können, ob es die Veranstaltung besucht oder nicht.

STANDARD: Es wird kommen, es kam auch bei Kuhn ohne Missetöne.

Kulman: Im Fall Kuhn waren es fünf nicht anonyme, sehr konkrete Aussagen, die von schweren sexuellen Übergriffen, die zum Teil sogar schon gerichtlich protokolliert waren, und von massivem strukturellen Machtmissbrauch über Jahrzehnte hinweg berichteten. Hier hätten die Verantwortlichen sofort reagieren und Kuhn suspendieren müssen. Stattdessen geschah über Wochen und Monate nichts, keine Untersuchungen, keine Kontaktaufnahme mit den Opfern, ein unverzeihliches Versäumnis seitens der Tiroler Festspiele und der Politik. Selbst als Kuhn nicht mehr in Erl dirigieren durfte, lud ihn sein Freund und Mentor Hans Peter Haselsteiner, der Erler Festspielpräsident, ein, zwei Extra-Veranstaltungen in Erl zu dirigieren. Eine reine, wohl bewusst gesetzte Provokation für die Opfer. Das ist wahrlich kein verantwortungsvoller Umgang und eines renommierten Festspielbetriebs nicht würdig.

STANDARD: Ist mediale Vorverurteilung bei #MeToo ein unvermeidbares Problem?

Kulman: Wir leben heute im digitalen Zeitalter, in einer zunehmend transparenten Welt. Etwas zu verbergen wird immer schwieriger werden. Die Menschen sind an diese Durchsichtigkeit aber noch nicht gewöhnt, deshalb gibt es jedes Mal einen kollektiven Aufschrei, wenn einem ihrer Idole der imaginierte Heiligenschein weggerissen wird. Dann treten die heißblütigen Verteidiger auf den Plan, sie haben Panik, dass die Lebensleistung ihres stürzenden Helden plötzlich in der Bedeutungslosigkeit versinke. Etwas mehr Nüchternheit könnte helfen: Niemand ist unfehlbar, die reinweiße Weste ist eine Illusion. Die Menschen sind nicht entweder nur gut oder nur schlecht. Jeder mündige Mensch kann anhand der vorliegenden Informationen und gemäß den eigenen Werten seine Einschätzung treffen. Kommen neue Details zum Vorschein, kann die Einschätzung abgeändert werden.

STANDARD: #MeToo-Vorwürfe werden überwiegend Männern gemacht, die heute älter als 40-50 sind. Ist es ein Generationenproblem? Glauben Sie, dass sich heutige junge Männer korrekter verhalten?

Kulman: #MeToo ist zuallererst ein Machtproblem. Laut Statistiken geht es in 90 Prozent der sexuellen Übergriffe nicht vorrangig um Sex, sondern um die Ausübung von Macht. Da müssen wir ansetzen, neue Strukturen schaffen, damit Missbrauch überhaupt nicht mehr möglich wird. Zu ihrer Frage nach den Generationen: Grundsätzlich sind in meiner Wahrnehmung die meisten Männer – ob jung oder alt – heute sehr bewusst und souverän in der Annäherung an Frauen. Sie wissen, wann ein Nein ein Nein ist, und respektieren es, haben aber trotzdem keine Hemmungen beim Flirten. So schwer ist das ja auch nicht. Ich denke, jeder gesunde Mensch hat eine eindeutige Wahrnehmung von den Grenzen des anderen.

STANDARD: Ihr kommendes Solistenkonzert an der Wiener Staatsoper trägt den stolzen Titel "La femme c’est moi". Wollen Sie auch künstlerisch mehr Feminismus in die Klassik tragen?

Kulman: "La femme c‘est moi" ist – wenn Sie so wollen – mein persönlicher Ausbruch aus den oft zitierten "Zwängen des Opernbetriebs". Ich will mein künstlerisches Potenzial voll ausschöpfen, und so habe ich mir mein eigenes Programm auf den Leib geschneidert, ganz nach meinen Vorlieben und meinem Gusto. Wenn man von einer patriarchalen Welt ausgeht, so ist "La femme c’est moi" freilich matriarchal konzipiert, in dem Sinn, dass die künstlerische Letztverantwortung bei mir liegt. Da ich bei meinem Projekt die eigene Chefin bin, stehe auch ich hier vor der Herausforderung und Verantwortung einer Führungsposition.

STANDARD: Wie gehen Sie selbst mit Führung um?

Kulman: Meine Erfahrung ist, dass der Umgang mit Macht wirklich gelernt werden muss. Auch ich habe da noch immer meine Lernkurven. Bei "La femme c‘est moi" lade ich alle meine Mit-Musiker dazu ein, ihre Kreativität in den Entwicklungsprozess einzubringen. Jeder soll sich sowohl als individueller Künstler als auch als Teamplayer wiederfinden. Die Erfahrung mit "La femme c’est moi" zeigt, dass sich unser Teamgeist und unsere Musizier- und Spiellust, mit der wie uns gegenseitig anstecken, auf das Publikum überträgt. Wir haben bislang immer eine wunderbare Stimmung erlebt, und ich freue mich schon auf das "Heimspiel" in der Staatsoper. Ich denke es geht uns allen besser, wenn Kunst in gegenseitigem Respekt voreinander entsteht. (INTERVIEW: Stefan Weiss, 24.8.2019)