Es gebe keinen Langzeitplan mehr, meint der Autor Roberto Saviano, die Jugendlichen suchten den kürzesten Weg zum Kapital – und der verläuft immer über Kriminalität.

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Ein Interview mit Roberto Saviano läuft anders ab. Seit seinem Enthüllungsbuch Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra (2006) steht der Autor und Journalist auf der Abschussliste der Mafia. Die Sicherheitsvorkehrungen sind groß, man muss mehrere Bodyguards passieren. In dem im Souterrain eines Berliner Hotels gelegenen Raum erwartet einen dann jedoch ein so relaxt wie konzentriert wirkender Gesprächspartner. Anlass für das Treffen ist Paranza – der Clan der Kinder, die Verfilmung seines Buches über die sogenannten Kindergangster Neapels.

STANDARD: Ihr Buch Der Clan der Kinder haben Sie als Roman tituliert. Warum war es notwendig, diesmal in die fiktionale Form zu wechseln?

Saviano: Für Gomorrha und Zero Zero Zero habe ich mich für eine Erzählhaltung entschieden, mit der ich den realen und entsprechend dokumentierten Ereignissen besonders naherücken konnte. Diesmal ging es für mich nicht so sehr darum, eine Realität nachzuzeichnen, ich wollte in die Köpfe der Charaktere hineingelangen. Was passiert mit Kindern, die zur Paranza gehen, die diesen Gruppen angehören? Was geschieht, wenn sie eine Entscheidung treffen, die nicht rückgängig zu machen ist.

STANDARD: Zu Beginn des Films gewinnt man noch den Eindruck, dass mehrere Enden offenstehen. Ein Jugendlicher glaubt, der Nachbarschaft mit seinen Diensten etwas Gutes zu tun – eine Ethik, die dann verlorengeht.

Saviano: Es ist eine Illusion zu glauben, dass man Gutes durch Böses erreichen kann. Es beginnt wie ein Spiel – Aladins Lampe ist in dieser Geschichte eine geladene Waffe. Und mit der kann man scheinbar alle Wünsche erfüllen: Geld, selbst Charisma ist möglich. Aber die Wahl ist nie rückgängig zu machen. Sie besteht darin, dass man einen kriminellen Lebensstil wählt. Die einzige Alternative wäre, nach einem sauberen Beruf zu suchen. Doch solange das Durchschnittsgehalt für eine Woche, wenn man Glück hat, bei 50 Euro liegt, gilt man als Verlierer.

STANDARD: Die Kindergangster sind ein eher neuartiges Phänomen. Inwiefern hat ihr Aufkommen mit strukturellen Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, ja der Mafia selbst zu tun?

Saviano: Früher waren die Teenager in der Verbrechensorganisation zwar auch involviert, sie haben aber nur geringe, kleinere Aufgaben erfüllt, bis sie vielleicht einmal jemanden umgebracht haben. Nun ist es anders: Für die Kindergangster gibt es mittlerweile überall in der Welt Beispiele, etwa in den mexikanischen Kartellen, wo Minderjährige rekrutiert werden, um sie dann Schritt für Schritt in die wichtigsten Positionen der Organisation aufsteigen lassen. Dasselbe passiert in Neapel, wo die Chefs der einzelnen Stadtteile bevorzugt Teenager und Jugendliche um sich scharen. Denn was mittlerweile fehlt, ist ein Langzeitplan: Es zählt nur noch die Gegenwart. Oft hört man die Kinder sagen, die Vergangenheit sei etwas für die Alten, die Zukunft ist für Loser, die Gegenwart gehört den Königen.

STANDARD: Hängt diese Faszination für die Gegenwart auch mit einer neuen Selbstwahrnehmung zusammen? Es geht ja nicht nur um Macht, sondern auch darum, seinen Lifestyle zu ästhetisieren.

Saviano: Das stimmt auf jeden Fall. Soziale Netzwerke sind etwa anders als ältere Medien ausgerichtet, heutzutage wird Charisma an der Anzahl der Follower gemessen. Es geht darum, glaubwürdig über sich selber zu reden, seine eigene Erzählung zu formen. Nicht die ethischen Parameter sind dabei entscheidend, nicht einmal so etwas wie Talent. Das Einzige, was zählt, ist der Look – in Verbindung mit einer Smartness. Die Kindergangster entsprechen solchen Bildern in jeder Hinsicht. Sie wollen angeben, sie wollen ihr Geld ausstellen und damit in der Gegenwart etwas gelten.

STANDARD: In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dass Sie gegen die Bilder der Glorifizierung der Mafia antreten. Welcher Mittel bedient man sich dabei?

Saviano: Ich glaube nicht daran, dass Kunst pädagogisch sein soll. Doch es gibt viele Mafiafilme, die so stümperhaft sind, dass man sie nicht anschauen kann. Sie sind völlig unrealistisch in der Art, wie sie die Mafia, vor allem die Figuren an der Spitze, porträtieren. Doch ich wurde auch schon selbst beschuldigt, die Mafia zu glorifizieren. Im Grunde ist das jedoch gar keine Anschuldigung, es handelt sich mehr um den Versuch einer Entschuldigung. Eine Einladung, still zu bleiben. Eine Einladung für Omertà.

STANDARD: Das heißt, man muss auf alternativen Zugängen bestehen?

Saviano: Ja, nicht umsonst imitiert die Mafia das Kino, um ein klares Signal an die Öffentlichkeit auszusenden, leichter verstehbar zu sein. Ein Boss namens Walter Schiavone hat seine Villa als exakte Replika jener von Tony Montana in Scarface bauen lassen. Er wollte damit unterstreichen, dass er alles dominiert und ihm niemand den Platz streitig machen kann. Bernardo "Zu Binnu" Provenzano hatte jedes Jahr ein Kino gemietet, um sich die Paten-Trilogie anzuschauen. Allerdings waren es nie Filme, die einem die Waffe in die Hand legen ...

STANDARD: Sie leben seit Jahren unter Polizeischutz, wechseln oft Ihren Aufenthaltsort. Wie groß ist die Sehnsucht nach Normalität?

Saviano: Ich versuche, nicht zu viel über diese Situation nachzudenken. Aber ich habe tatsächlich weniger Angst vor dem Tod als davor, dass es immer so weitergeht.

STANDARD: Nicht nur in Italien gibt es mittlerweile erfolgreiche populistische Bewegungen, die mit einem Sündenbockkurs von systemischen Problemen ablenken. Salvini hat Ihnen schon einmal mit dem Entzug des Polizeischutzes gedroht. Wie betrachten Sie seine Rolle – ist er der zynische Nutznießer eines maroden Systems?

Saviano: Salvini ist eine Gefahr für ganz Europa. Für die Demokratie. Jemandem, der aus Österreich kommt, mag er vielleicht wie ein fauler Italiener erscheinen, der es liebt, sich als politischer Clown in Szene zu setzen. Der nur herumschreit und Dinge verkündet, dann aber nicht in der Lage ist, sie durchzusetzen. Er hat mit dieser Regierung überhaupt nichts zuwege gebracht. Aber die freie Meinungsäußerung steht in Gefahr. Das nationale Fernsehen Rai ist auf militante Weise umbesetzt worden – ausschließlich mit Lega-nahen Leuten. Nicht mehr Talent oder Professionalismus sind Erfordernisse für einen Job, sondern der Hang zum Gehorsam. Und Salvini hat wiederholt etwas gemacht, was wirklich gravierend ist: Er hat bei vielen Auftritten eine Polizeiuniform getragen – das ist etwas, was nur in faschistischen Regimen üblich war. Europa hat dazu geschwiegen.

STANDARD: Sie hatten mit ihm darüber einen Twitter-Austausch.

Saviano: Ja, er richtete mir "Alla faccia tua! – Nimm das, Saviano!" aus. (Auf dem Bild posiert Salvini in Uniform, Anm.). Das war seine Art zu sagen, dass er so weitermachen wird wie bisher ... Ich weiß nicht, ob so etwas Ähnliches in Österreich möglich wäre. (Dominik Kamalzadeh, 26.8.2019)