Als Verteidiger von Sicherheit und Freiheit begriffen sich einst auch die Tiroler Schützen. In Alpbach empfingen sie Tirols Landeshauptmann Platter, Bundeskanzlerin Bierlein und Bundespräsident Van der Bellen (v. li.).

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Vor allem die Gutwilligen, die sich um das gemeinsame Europa Sorgen machen, müssten mit offenen Augen auf unangenehme Wahrheiten schauen, die mit Integration und Erweiterung seit den Umbrüchen 1989 verbunden sind. Dazu mahnte der Politologe Ivan Krastev Sonntag in Alpbach. Eine davon sei, dass nicht nur die Migration in die EU viele ungelöste Probleme brachte.

Populisten nutzten das, um in Teilen der Bevölkerung richtiggehend "Panik" zu erzeugen, selbst wenn das durch reale Flüchtlingszahlen nicht angezeigt war, siehe Ungarn oder Polen, so Krastev. Die Folge: Demokratie und Freiheitsrechte gerieten unter Druck.

Aber es habe in der EU seit der Erweiterung 2004 und 2007 auch eine starke Migration von Ost- und Ostmitteleuropa nach Westen gegeben, die in den neuen EU-Staaten zu Verwerfungen führten. Auch sie heizten die Krisenstimmung an. Die Einwohnerzahl von Bulgarien sei seit 1989 von neun auf sieben Millionen Einwohner geschrumpft, sagte Krastev: "2040 werden es fünf Millionen sein."

Ähnliche Entwicklungen gebe es in Rumänien, schwächer in Ungarn oder Polen. Das Phänomen der "Unterbevölkerung" (auch in Ostdeutschland), der Abwanderung der gut ausgebildeten Jungen, sei eine tickende Bombe, warnte der Wissenschafter.

Es führe zu Unterentwicklung, "wenn plötzlich die Ärzte weg" seien. "Das hat politische Folgen", referierte Krastev, es sei eindeutig nachweisbar, dass "rechtsradikale Parteien dort bei Wahlen besonders stark sind". Frust und Ängste nähmen zu, und damit die Forderungen nach mehr Sicherheit, auf Kosten von Freiheit und Demokratie. Es sei notwendig, sich mehr mit den Zusammenhängen von Demografie und Demokratie zu beschäftigen, sagte Krastev, der 2018 mit dem Buch "Europadämmerung" für Furore sorgte.

Freiheit und Sicherheit

Das Beispiel, das der renommierte Forscher vortrug, ist nur eines von vielen Konfliktfeldern, die der Europäischen Union aktuell zu schaffen machen und die in engem Zusammenhang mit dem Generalthema des Forums Alpbach stehen: Freiheit und Sicherheit.

Die Liste ist lang. Der Brexit steht Ende Oktober bevor. Erstmals in der Geschichte würde die EU schrumpfen, um ein reiches, sicherheitspolitisch sehr wichtiges Land ärmer. Die ärgsten Zeiten der Eurokrise sind vorbei, aber schon steht dem Euroraum eine Rezession bevor. Die Spannungen im hoch verschuldeten Italien wachsen. All das steigert die Unsicherheit in ganz Europa. In einigen osteuropäischen EU-Staaten ist ein Ende der Angriffe von Regierungen auf Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte nicht abzusehen. Außer wortreichen Ermahnungen haben die EU-Institutionen dem nicht viel entgegenzusetzen. Die Terrorgefahr scheint gebannt, aber in Frankreich gilt noch immer der Ausnahmezustand.

In anderem Zusammenhang warnte Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein vor zu viel Überwachungsmaßnahmen, die die heikle Balance von Freiheit, Sicherheit und Demokratie bedrohen. "Unsere hoch entwickelten GrundrechtsStandards dürfen nicht infrage gestellt werden", ob es um Datensicherung oder um Migration geht. Der Staat habe die Sicherheit der Bevölkerung zu schützen, ebenso aber die Freiheitsrechte. Vor allem: Es sei der Rechtsstaat, der die wichtigste Bedingung für Stabilität und Frieden sei. Recht müsse gelten, betonte Bierlein.

All das hat die EU eigentlich seit langem im Programm. Es waren die Staats- und Regierungschefs, die im Oktober 1999 beim EU-Gipfel im finnischen Tampere feierlich gelobten: Sie seien "entschlossen, die Europäische Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auszubauen". Dabei wolle man alle juristisch wie technisch vorgesehenen Möglichkeiten umfassend nutzen. Ohne Abstriche.

Hellers Vermächtnis

Das haben sie nur sehr lückenhaft geschafft. Ein Fehler, folgt man den Gedanken der kurz vor Beginn des Forums verstorbenen Philosophin Ágnes Heller (ihre Eröffnungsrede wurde posthum verlesen): Eine gute Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu finden, danach suche die menschliche Zivilisation seit Urzeiten, wie man im Buch Exodus des Alten Testaments nachlesen könne.

Seit der Moderne sei klar, dass es Sicherheit nicht ohne Freiheit geben könne. Und diese Freiheit brauche Grundrechte, den Rechtsstaat als Fundament. Werde die Gültigkeit des Rechts wie der Menschenrechte in Zweifel gestellt, werden Freiheit und die liberale Demokratie das erste Opfer sein. Ágnes Hellers Vermächtnis. (Thomas Mayer, 26.8.2019)