Im Gastkommentar schildert Princeton-Professorin Kim Lane Scheppele, wie schwer sich die EU tut, die gemeinsamen Werte durchzusetzen.

Das letzte Jahrzehnt war kein gutes für Europa. Die Finanzkrise hat zu Animositäten zwischen Nord und Süd geführt, die Flüchtlingskrise zu Anfeindungen zwischen Ost und West. Der Brexit hat aufgezeigt, dass die EU-Mitgliedsstaaten in einem gemeinsamen Projekt zusammengespannt sind, dem schwer zu entkommen ist. Es mag hoffnungslos erscheinen, ausgerechnet jetzt über europäische Werte zu sprechen. Aber gerade in Momenten akuter Belastungen müssen wir uns an den Sinn des europäischen Projekts erinnern.

Das europäische Projekt wurde geboren, als die Erinnerungen an den Krieg frisch waren. Die Mitgliedsstaaten gelobten: "Nie wieder!" Nie wieder Autoritarismus. Nie wieder Menschenrechtsverletzungen. Und nie wieder sollte Gesetzgebung als Mittel politischer Herrschaft dienen. Von diesen Verpflichtungen durfte es keine Abweichung geben.

Gemeinsame Wertebasis

Das europäische Projekt löschte nie alle Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten aus. Die EU bietet Platz für Regierungen von rechts bis links, für neoliberale sowie sozialdemokratische Wirtschaftspolitiken, für konstitutionelle Monarchien, Präsidialrepubliken oder parlamentarische Demokratien, für Staaten mit offiziellen Religionen sowie für säkulare. Der Pluralismus ist in vielerlei Hinsicht die Stärke Europas.

Aber das europäische Projekt erfordert gemeinsame Werte. Artikel 2 des EU-Vertrags hält fest: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte."

Angenommen, ein EU-Staat schreibt seine nationale Verfassung um, ohne die politische Opposition einzubinden. Angenommen, dessen Regierung entlässt praktisch alle hohen Beamte unabhängiger Institutionen – Richter, Wahlausschussleiter, Ombudsmänner – und ersetzt diese durch Loyalisten der regierenden Partei. Angenommen, diese Regierung entfernt den Rechtsstatus religiöser Organisationen, durchsucht Büros unabhängiger NGOs, und erstellt eine neue Geheimpolizei mit weitgehenden Überwachungskompetenzen. Angenommen, diese Regierung sät Intoleranz gegenüber Minderheiten und schreibt die Geschichte neu, um vergangene Gräueltaten zu beschönigen. Angenommen, diese Regierung schreibt die Wahlgesetze zu ihrem Vorteil um, nachdem ihre Beliebtheit infolge all dessen gesunken war.

Angenommen? Es handelt sich dabei um keinen hypothetischen Fall. Leider ist dieses Beispiel Realität – es handelt sich um Ungarn.

Illiberale Strömungen

Ungarns Premierminister Viktor Orbán hat damit geprahlt, dass er einen illiberalen Staat im Zentrum Europas gründet. Er hat das Schicksal der gesamten Justiz in die Hände eines Parteiloyalisten gelegt, der Richter anstellen, feuern, disziplinieren und versetzen kann, wie es ihm gefällt. Er hat das Mediensystem monopolisiert, seine Gegner verfolgt und sich dagegen gewehrt, der Opposition eine Stimme im Parlament zu geben. Er hat gesagt, dass Ungarn den Ungarn gehöre, womit er ausschließlich Mitbürger der gleichen Ethnie meint. Er hat eine bösartige Kampagne gegen Migranten lanciert, einen Stacheldrahtzaun an der EU-Grenze aufgestellt, und er weigert sich sogar, denjenigen Essen zu geben, die im grausamen ungarischen Asylsystem inhaftiert sind.

Orbán hat eine Autokratie innerhalb Europas aufgebaut, in der Menschen nicht mehr friedlich ihre Regierung abwählen können.

Und es ist längst nicht mehr nur Ungarn. Polen folgt dem Beispiel. Jaroslav Kaczynski regiert wie der Puppenspieler einer wachsenden Autokratie. Seine Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat die Justiz attackiert, den Verfassungsgerichtshof mit illegalen Richtern besetzt und andere Richter gefeuert. Er hat den öffentlichen Rundfunk in eine Propagandaschleuder verwandelt, Kritiker mit grundlosen Verleumdungsklagen schikaniert und die Wahlgesetze geändert, um an der Macht zu bleiben.

Frans Timmermans machte sich mit dem Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen in östlichen EU-Staaten keine Freunde.
Foto: APA/AFP/EMMANUEL DUNAND

Die Rolle der EU

Welche Rolle spielte die EU in alldem? Das Europäische Parlament hat von Beginn an entschieden auf die Lage in Ungarn reagiert. Die Kommission hat Vertragsverletzungsverfahren lanciert, obwohl es der ungarischen Regierung immer gelingt, sich aus den ernsthafteren Sanktionen herauszuwinden. Im September 2018 hat das Parlament eine Resolution mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit verabschiedet, die ein Verfahren nach Artikel 7 (1) des EU-Vertrags auslöst, und es hat Ungarn davor gewarnt, dass es in Gefahr sei, europäische Werte zu brechen.

Die Resolution erfordert die Zustimmung des EU-Ministerrats, wo sie seit einem Jahr auf der Tagesordnung steht und ignoriert wird.

Gegenüber Polen hat die Kommission zügiger und bestimmter reagiert und die Regierung vor den Europäischen Gerichtshof gebracht. So erwirkte sie die Rücknahme einiger Änderungen. Polens Regierung fordert jedoch weiterhin die EU-Grundwerte heraus. Die Kommission hat im Dezember 2017 das Artikel-7-Verfahren gegen Polen ausgelöst, aber abgesehen von einigen ergebnislosen Hearings hat es der EU-Ministerrat verabsäumt, in entschiedener Weise zu reagieren.

Disziplinieren und isolieren

Die supranationalen EU-Institutionen geben ihr Bestes. Kommission, Parlament und Gerichtshof haben versucht, das Feuer der Autokratie zu löschen, bevor es sich weiterverbreitet.

Die Mitgliedsstaaten weigern sich aber, andere zu disziplinieren. Sie haben die EU-Verträge so gestaltet, dass die schwerwiegendsten Sanktionen von ihrer Zustimmung abhängen, und nun beschützen sie Schurkenstaaten. Polen, Ungarn und Italien – ein weiterer möglicher Sorgenfall – wurde es erlaubt, die Spitzenkandidaten für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten zu blockieren. Der Rat weigert sich, einer Verordnung zuzustimmen, die es der Kommission erlauben würde, Mitgliedsstaaten Förderungen zu streichen, wenn diese den Rechtsstaat beschneiden. Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich bisher nicht der Herausforderung gestellt, Autokratien in ihrem eigenen Club zu bekämpfen.

Europas Stärke liegt in den verschiedenen nationalen Traditionen. Aber Europa verbindet auch eine gemeinsame Geschichte. Autoritäre und illiberale Staaten haben in der jüngsten Geschichte einen gesamten Kontinent verwüstet und großes Leid verursacht. Die EU-Mitgliedsstaaten müssen handeln und jene Länder disziplinieren und isolieren, welche gemeinsame Werte negieren und gegen jene Geschichte handeln, die Europa ja erst "nie wieder" schwören ließ – damit sich die Gefahr nicht weiterverbreiten kann. (Kim Lane Scheppele, 26.8.2019)