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Säkulare Türken geben Tayyip Erdoğans Partei eine Mitschuld an der zunehmenden Gewalt gegen Frauen.

Foto: REUTERS/Murad Sezer

Brutaler kann man es sich kaum ausdenken: Da ist ein Mann, der in einem Café auf seine Ex-Frau einsticht, bis sie verblutet. Die fünfjährige Tochter steht daneben und schreit: "Mama, bitte stirb nicht!" Der Vorfall ereignete sich vergangene Woche in der Provinz Kırıkkale, etwa 100 Kilometer östlich der türkischen Hauptstadt Ankara.

Der Mann hatte seine Ex-Frau Emine Bulut in dem Café getroffen, als er plötzlich ein Messer zog und auf die 38-Jährige einzustechen begann. Anscheinend sahen zahlreiche Gäste zu, ohne einzugreifen. Die schwer verletzte Frau konnte sich noch in ein Taxi retten. Im Spital aber erlag sie ihren Verletzungen. Ihr Ehemann wurde verhaftet, er gab zu Protokoll, es sei um das Sorgerecht für die Tochter gegangen und seine Ex-Frau hätte ihn beleidigt.

Weitere Gewaltverbrechen

Die Tat ereignete sich am 18. August – am vergangenen Freitag aber gelangten Videoaufnahmen der Tat an die Öffentlichkeit. Hinzu kam ein weiterer Fall: Am vergangenen Donnerstag wurde eine Frau in der zentralanatolischen Provinz Konya ebenfalls von ihrem Ehemann erstochen, während ihre Kinder zusehen mussten. Auch in Gaziantep wurde eine Frau Opfer eines Gewaltverbrechens.

Seitdem rufen Frauen- und Menschenrechtsgruppen zu Protesten auf. Sowohl in Ankara als auch in Istanbul gingen am Wochenende Tausende auf die Straße, um gegen Gewalt an Frauen zu demonstrieren. Sie riefen "Ölmek istemiyoruz!", auf Deutsch: "Wir wollen nicht sterben!"

Sowohl der Bürgermeister von Istanbul als auch der Regierungssprecher von Staatschef Tayyip Erdoğan und der Vorsitzende der türkischen Religionsbehörde Diyanet verurteilten die Taten umgehend. Doch die Vorfälle werfen auch ein Schlaglicht auf ein tieferliegendes Problem der türkischen Gesellschaft.

Laut Frauenrechtsgruppen ist die Gewalt an Frauen endemisch. Allein in diesem Jahr seien demnach 245 Frauen von ihren Ehemännern getötet worden. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 440 gewesen. Darüber hinaus berichten 40 Prozent aller türkischen Frauen von Gewalterfahrungen in der Ehe. Die Täter berufen sich meist auf ihre "Ehre", die zum Beispiel durch eine Scheidung verletzt worden sei. Vor allem in den östlichen Provinzen des Landes und in den kurdischen Gebieten kommt es immer wieder zu "Ehrenmorden".

Prediger rechtfertigen Gewalt

Zwar hatte die AKP unter Erdoğan 2003 "Ehrenmorde" stärker unter Strafe gestellt und das Familienstrafrecht liberalisiert. Viele säkulare Türken aber machen trotzdem die konservative AKP für die zunehmende Gewalt gegen Frauen verantwortlich. Oft sind es ultrareligiöse Prediger auf Youtube oder in Moscheen, die Gewalt gegen Frauen religiös rechtfertigen. Die Regierung gehe nicht entschieden gegen die Prediger vor, diese fühlten sich im Gegenzug ermutigt, wird kritisiert. Aussagen des Präsidenten, wonach "Frauen und Männer nicht gleich seien" und eine "türkische Frau mindestens drei Kinder zu bekommen habe", trügen auch zu einem misogynen Klima bei.

Auch der Europarat hatte im vergangenen Jahr die türkische Regierung dazu aufgefordert, mehr gegen Gewalt an Frauen sowie Kinderehen zu tun. Richter würden noch immer zu milde Urteile fällen. Zudem verharmlosen immer wieder Polizeibeamte die Problematik. So war Emine Bulut eine halbe Stunde vor ihrer Ermordung auf einer Polizeiwache gewesen, um die Beamten auf ihren Ex-Mann aufmerksam zu machen. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 27.8.2019)