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Im sächsischen Chemnitz wurde der deutsche Grünen-Chef Robert Habeck ausgepfiffen, als er dafür warb, den öffentlichen Raum nicht den Antidemokraten zu überlassen.

Foto: Reuters/HANNIBAL HANSCHKE

Kaum hat Grünen-Chef Robert Habeck die Bühne betreten, da geht es auch schon los. "Hau ab! Hau ab! Hau ab!" brüllen rund 30 Demonstranten. "Ich könnte so kotzen, wenn ich den sehe", schreit ein 55-Jähriger durch den Lärm der Trillerpfeifen und macht eine entsprechende Bewegung.

Habeck lässt sich derweil – direkt vor dem großen Karl-Marx-Monument – nicht rausbringen, sondern erklärt, warum er hierhergekommen ist: "Chemnitz steht dafür, den öffentlichen Raum nicht den Antidemokraten und Nationalisten zu überlassen."

Damit erinnert er natürlich an die Vorgänge vor einem Jahr – als Rechtsextreme nach dem Mord an einem Deutsch-Kubaner tagelang durch die Stadt zogen. Der Applaus für Habeck ist groß, die Pfiffe allerdings sind auch sehr laut.

Es dauert ein wenig, bis die grünen Ordner eine Strategie gefunden haben. Sie schieben sich irgendwann zwischen Bühne und Demonstranten, von denen viele zur rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz gehören.

"Vaterlandsliebe zum Kotzen"

Einer hat ein Plakat mit einem früheren Zitat von Habeck mitgebracht. "Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen", steht darauf. Reden will er mit Journalisten nicht. Doch sein Kumpel, der gleich zu Beginn so wütend war, erklärt seinen Frust.

"Der Habeck hat mit uns Deutschen überhaupt nichts am Hut. Nur für die Ausländer kämpfen die Grünen, und wir Deutschen bleiben immer mehr auf der Strecke." Nachsatz: "Soll er sich doch ein anderes Land suchen und dorthin gehen. Und alle Flüchtlinge gleich mal mitnehmen. Am besten nach Saudi-Arabien oder so." Die Veranstaltung in Chemnitz ist bei der großen Osttour der Grünen ein gewisses Wagnis. Die Grünen setzten auf "Townhall-Meetings", bei denen die Bürger und Bürgerinnen Fragen stellen. Viele der Veranstaltungen finden in geschlossenen Räumen statt. In Chemnitz aber wollte Robert Habeck draußen sichtbar sein. So viele Pfiffe, erklärt er später dem STANDARD, habe er tatsächlich noch nie bekommen.

Doch es gibt noch eine andere, wesentlich erfreulichere Seite des Wahlkampfs. Noch nie lagen die Grünen in Umfragen so hoch wie jetzt vor den Wahlen in Brandenburg und Sachsen. Am Sonntag könnten sie in beiden Ostländern zweistellig werden. Zum Vergleich: In Brandenburg schafften sie 2014 6,2 Prozent, in Sachsen 5,7.

"Zuspruch und Neugier"

Lange galten sie in Ostdeutschland als abgehobene Partei des Westens, die sich um Luxusprobleme kümmert. "Jetzt aber passiert etwas, wir erleben so viel Zuspruch und Neugier", sagt Habeck. Bei der Kommunalwahl im Mai schaffte es die Partei in Dresden auf Platz eins, in Leipzig auf Platz zwei. Nicht nur der Klimawandel ist Thema, vielen erscheinen die Grünen als die wahren Gegenspieler der AfD, weniger CDU und SPD.

Dabei sind gerade Sachsen und Brandenburg jene beiden Ostländer, denen ein gewaltiger Strukturwandel bevorsteht, da die Bundesregierung bis 2038 aus der Braunkohle aussteigen will. Im Lausitzer Revier – im südlichen Brandenburg und im angrenzenden nordöstlichen Sachsen – hängen nach Angaben des Bundesverbands Braunkohle unmittelbar rund 8.600 Arbeitsplätze an der Kohle. Lobpreisungen alternativer Energieträger kommen nicht so gut an, ebenso wenig, dass die Grünen den Ausstieg schon 2030 wollen.

Habeck versucht es in Chemnitz trotzdem, hält sich aber äußerst allgemein: "Wir leben in Zeiten der Veränderung, und die müssen wir gestalten", sagt er. Es nütze gar nichts, "den Kopf in den Sand zu stecken" und so zu tun, als seien die Probleme dadurch einfach weg. Man müsse jetzt "Fortschritt und ökologische Gerechtigkeit verbinden".

Das Rückgrat Deutschlands

Dem Wutbürger mit der Trillerpfeife graut erneut: "Nur Wahnsinnige wählen die Grünen." Er selbst ist Lastwagenfahrer und fährt privat einen Diesel. "Es können sich nicht alle ein neues Auto leisten, außerdem ist der Diesel effizient, das sollte der Habeck mal begreifen", sagt er.

Überhaupt: "Die Autoindustrie ist das Rückgrat der Bundesrepublik. Wenn die immer stärker angegriffen wird – gute Nacht, Deutschland." Der ganze Wandel geht ihm "viel zu schnell". Er wird am Sonntag AfD wählen und meint: "Jeder tut das, der noch bei klarem Verstand ist."

Die neue Beliebtheit stellt die Grünen nun vor Fragen, die früher so gar nicht aufgetaucht sind: Soll man in eine Koalition gehen? In Brandenburg werden sie nicht gebraucht, wenn SPD und Linke – wie zuletzt prognostiziert – doch weiterregieren können.

Doch in Sachsen will Habeck seine Parteifreunde am Kabinettstisch sehen. Zwar ist für ihn die regierende CDU "in allen Bereichen ein politischer Gegner". Aber wenn Michael Kretschmer (CDU) Ministerpräsident bleiben will, braucht der einen neuen Partner. Die SPD, mit der er aktuell regiert, kommt aufgrund des absehbar schwachen Wahlergebnisses wohl nicht mehr infrage.

Man munkelt, dass sich die im Freistaat sehr konservative CDU von der AfD tolerieren lassen könnte. Da bietet Habeck lieber eine Zusammenarbeit mit den Grünen an, um dafür zu sorgen, dass Sachsen "weltoffen und ökologisch wird". (Birgit Baumann aus Chemnitz, 27.8.2019)