Österreich, ein Land unzähliger Dichter und Denker, die sich in ihren Arbeiten unter anderem oft an der Identität und dem vielschichtigen Wesen der Menschen in unserem von der Natur so gesegneten Land abarbeiteten. Von Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek über Peter Turrini bis hin zu Ingeborg Bachmann und vielen mehr reicht die Bandbreite an kritischen Geistern, die hart mit ihrer Heimat ins Gericht gingen. Von Heldenplatz bis Holzfällen. Eines hatten und haben sie alle gemein – das oft für andere und ebenso für sie selbst schmerzliche Reiben an der österreichischen Seele. Dem Jahr 2019 ist anzusehen, welche Ausformungen die durch den österreichischen Individualpsychologen Erwin Ringel berühmt gewordene österreichische Seele im Rahmen eines Wahlkampfes einnehmen kann.

Austria today * Österreich gestern _ heute

Public Relations essen Partei-Seele auf

Anstatt auf eine mehrere Jahrzehnte umfassende tiefgehende Tradition ihrer Bewegungen zu bauen, setzen die einstigen Volksparteien SPÖ und ÖVP auf oberflächliche Öffentlichkeitsarbeit. In der Tiefe der Lebenskultur Österreichs und des damit eng verbundenen christlich-sozialen oder sozialdemokratischen Erbes zu wandeln, ist schon lange aus der Mode. Stattdessen wird eine habilitierte Medizinerin zur Inkarnation der Menschlichkeit mit dazugehörigen Social-Media-affinen Zeitgeistfloskeln getrimmt. Von Klimaschutz über Frauenpolitik und Gesundheit bis hin zum Mindestlohn werden die Wähler mit allem bombardiert. Ziel: dass wohl hoffentlich irgendetwas bei den Menschen hängen bleibt. Dann wundert man sich auch noch, dass man in den Umfragen um die 20 Prozent herumdümpelt.

Für die neue Volkspartei springt plötzlich eine im Matching für konservative Kreise gut passende Grand Dame aus bestem Schauspielhause, Christiane Hörbiger, ein und verkündet ihre Präferenz für den Altkanzler der Zukunft. Das Topping im politmedialen Lustspiel liefert die FPÖ mit ihrer ersten Plakatwelle "Mit Sicherheit für Österreich". Damit wären alle Zielgruppen und sozialen Milieus bedient und die Werber zufrieden. Einzig die österreichische Seele in ihrer wahren Tiefgründigkeit bleibt auf der Strecke.

Von Politik, die dem Ego dient

Wie schon in zahlreichen Wahlen davor geht es im Herbst nicht um die Seele in der Politik, sondern ums Ego der Politiker. Das merken aber die Bürger und so wird am 29. September vielleicht nicht das höchste Motiv auf der Maslowschen Bedürfnispyramide gewählt – Selbstverwirklichung –, sondern die unteren Ebenen, wie Grundbedürfnisse und Sicherheit, kommen stärker zum Tragen. Da stellt sich die berechtigte Frage: Sind wir in unserem Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Weiterentwicklung wirklich offener und humaner geworden oder verstecken wir unsere sparsame Entwicklung auf persönlicher Ebene nur hinter dem technologischen Fortschritt und einer Social-Media-Performance? Die Problematik ist insofern von Bedeutung, als dass es gerade bei den Nationalratswahlen Ende September um Heilsversprechungen von verschiedensten Politikertypologien geht.

Prost, Österreich!
Foto: derstandard.at/www.corn.at Heribert CORN

Spiegel der österreichischen Seele

Die Kandidaten sowie die mit ihnen assoziierten Themen werden wir jetzt spontan nicht mehr ändern können. Weil aber unser Wahlverhalten in gewisser Form einem Spiegel unserer Persönlichkeit und einer Projektion dieser auf potenziell favorisierte Bewegungen und Spitzenpolitiker(innen) gleichkommt, sollten wir uns fragen, ob unsere eigenen Wahlmotive so rein sind wie wir denken. Ringel, erwähnter Analyst der österreichischen Seele, behandelte in einem seiner Werke den "Einfluss der Neurose auf das politische Verhalten Österreichs". Ob es uns konveniert oder nicht, in bestimmter Art vereinen wir alle Teile von der oft rein plakatierten Menschlichkeit über die Affinität zu jung dynamischen Altkanzlern bis zur Sehnsucht der Sicherheit für Österreich. Womit sich der Kreis zu den österreichischen Dichtern und Denkern mit ihrer feinen Sensorik schließt. (Daniel Witzeling, 30.8.2019)

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