Joaquim Phoenix kommt als Joker nach Venedig. Todd Philipps erzählt in "Joker" das Leben des Batman-Kontrahenten.

Foto: Nico Tavernise

Alles eine Frage der Perspektive? Das Line-up für die am Mittwoch startende Filmbiennale von Venedig wurde in der italienischen Zeitung Il Messagero so kommentiert: "Es ist ein Festival der Frauen, doch die Regisseure sind Männer."

Die etwas verquere Argumentation ist ernst gemeint. Es handelt sich um den Versuch, Genderausgewogenheit nicht an der Quote der um den Goldenen Löwen konkurrierenden Regisseure zu messen. Die fällt nämlich mit zwei Frauen (der Australierin Shannon Murphy und der saudi-arabischen Filmemacherin Haifaa Al Mansour) gegenüber 19 Männern auch dieses Jahr wieder recht eindeutig aus.

Es ist eine der gängigen Verteidigungslinien: Frauen würden im Filmbereich doch an vielen Stellen arbeiten. Auch Festivaldirektor Alberto Barbera argumentiert ähnlich. In der Ära von MeToo und zahlreicher Initiativen um größere Geschlechterparität im Film sind allerdings solche, sagen wir einmal, traditionelle Auslegungen nicht mehr ausreichend.

"Völlig taubstumm"

Andere Festivals, selbst das sich gern chauvinistisch-elitär gebende Cannes, haben deutliche Zeichen ausgesandt, dass ein Umdenkprozess begonnen hat. Nicht beim ältesten Filmfestival der Welt: "Venedig ist völlig taubstumm, was Angelegenheiten rund um MeToo und Time’s Up anbelangt", sagt Melissa Silverstein, Begründerin der Website "Women and Hollywood", im Hollywood Reporter.

Ein im Branchenblatt Variety publizierter Vergleich der wichtigsten Schienen mehrerer A-Filmfestivals macht den Abstand am Lido besonders deutlich. Während man dieses Jahr in Berlin schon bei fast 44 Prozent Regisseurinnen war und beim im September startenden Festival in Toronto bei 24 Prozent liegt, kann Venedig gerade mal 9,5 Prozent vorweisen.

Kritik erntete darüber hinaus Barberas Entscheidung, Filme der umstrittenen Regisseure Roman Polanski und Nate Parker ins Programm zu hieven.

Ein Still aus Roman Polanskis J'accuse.
Foto: filmfestival venedig

Parkers gefeiertes Spielfilmdebüt The Birth of a Nation von 2016 wurde von einem weiter zurückliegenden Vergewaltigungsfall überschattet, für den Parker vor Gericht jedoch freigesprochen wurde. Auch der Fall Polanski blieb von der MeToo-Dynamik nicht unberührt.

In seinem neuen Film J’accuse beschäftigt sich der Pole mit der berühmten Dreyfuss-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts. Den Justizirrtum rund um den jüdischen Offizier, der wegen Landesverrat verurteilt wurde, wird der 86-jährigen Polanski wohl ein Stück weit auch als Reflexion seiner eigener Situation verstehen.

Barbera hat seine Entscheidung damit verteidigt, dass es sich um einen der großen europäischen Filmemacher handelt. Er verstieg sich auch dazu, dessen beschädigten Ruf mit jenem von Caravaggio zu vergleichen, der bei einer Rauferei einen Gegner tödlich verwundete.

Oscar-Trüffelschwein

Brisante Themen finden sich im Wettbewerb allerdings auch abseits solcher heikler Zusammenhänge von Werk und Autor. US-Regisseur Steven Soderbergh beleuchtet in seiner Netflix-Produktion The Laundromat die Hintergründe der Panama-Papers. Mit Meryl Streep, Gary Oldman und Antonio Banderas hat er für das Drama rund um Briefkastenfirmen und Steuerbetrug exzellente Darsteller bei der Hand.

Wasp Network, der neue Film des alerten französischen Regisseurs Olivier Assayas, erzählt die wahre Geschichte der "Cuban Five", fünf kubanischer Agenten, die in den USA wegen Spionage verurteilt wurden.

An der hohen Präsenz des US-Kinos, die Venedig den Ruf eines Oscar-Trüffelschweins einbrachte, hält Barbera weiter Jahr fest. James Gray präsentiert seinen mit Spannung erwarteten Science-Fiction-Film Ad Astra mit Brad Pitt als autistischen Weltraumfahrer. Joaquim Phoenix kommt als Joker (Regie: Todd Philipps) auf den Lido, der gleichnamige Film erzählt die Vita von Batmans clowneskem Gegenspieler.

Dazu kommen neue Arbeiten des schwedischen Regie-Eigenbrötlers Roy Andersson, Ciro Guerras Verfilmung von J. M. Coetzees Warten auf die Barbaren mit Mark Rylance und Johnny Depp oder Martin Eden, eine Jack-London-Adaption von Pietro Marcello, einem der interessantesten italienischen Regisseure der Gegenwart.

Warten auf die Barbaren mit Mark Rylance und Johnny Depp.
Foto: Filmfestival Venedig

Den Festivalauftakt am Mittwochabend macht La verité vom Cannes-Gewinner Hirokazu Kore-eda. Dem Japaner ist es gelungen, die beiden Schauspiel-Diven Juliette Binoche und Catherine Deneuve erstmals in einem Film zusammenzuführen. (Dominik Kamazadeh, 27.8.2019)