Cathrine Deneuve (Mitte) als Filmschauspielerin Fabienne, die viel auf ihr Prestige hält: Der heurige Eröffnungsfilm der Filmfestspiele von Venedig versucht sich in einer Familienstudie.

Foto: Venice Film Festival

Auf dem Fahrrad in Richtung Festivalpalast unterwegs, passiert man dieses Jahr fast ausschließlich Plakate von Netflix-Produktionen. Drei Filme hat das von Venedig hofierte Streaming- und Produktionsunternehmen am Start, Noah Baumbachs Ehedrama Marriage Story, Steven Soderberghs The Laundromat über den Panama-Papers-Leak sowie den Historienfilm The King mit Jungstar Timothée Chalamet. Die dichte Werbepräsenz liefert schon einmal ein Bild dafür ab, wem die Teilnahme an der renommierten Mostra besonders viel wert ist.

Doch weder die Netflix- noch die Oscar-verdächtigen US-Produktionen der vergangenen Jahre stehen am Start des Festivals. Mit der ersten französischsprachigen Produktion des Cannes-Gewinners von 2018, des Japaners Hirokazu Koreeda, gab man am Mittwoch einem globalen Dialog den Vorzug, der nicht zuletzt von Cinephilie geprägt ist. Koreeda verehrt das französische Kino. Nun ist es ihm gelungen, zwei für ihre jeweilige Generation maßgebende Aktricen, Catherine Deneuve und Juliette Binoche, erstmals in einem Film Seite an Seite zu stellen.

In Japan verwurzelt

Von den verwaisten Kindern in Nobody Knows bis zur bittersüßen Prekariatsstudie Shoplifters waren Koreedas Filme freilich so tief in der japanischen Gesellschaft verwurzelt, dass man gespannt darauf sein durfte, wie ihm der Transfer nach Europa gelingen wird. Bemerkenswert ist gleich einmal, dass er sich bei seiner Familienstudie diesmal für ein matriarchalisches Modell entschieden hat. Und dass er sich in einem selbstreflexiven Film-Film-Setting bewegt: Deneuve verkörpert die allseits bewunderte Filmschauspielerin Fabienne, die wie eine Königin auf ihre Prestige viel hält. Schon in der ersten Szene, einer Interviewsituation, bringt sie einen Journalisten mit ihren knappen, koketten Antworten ein wenig in Verlegenheit.

Filme über divenhafte Schauspielerinnen sind stets auch Reverenzen vor den Darstellerinnen, die sich im besten Fall in der Rolle etwas gehenlassen. Beim Zuschauen darf man darüber rätseln, wie viel an der fiktiven Persona wohl authentisch ist – zumal, wenn der Titel des Films La vérité, die Wahrheit, lautet. So heißt auch die Autobiografie, die Fabienne gerade in hoher Auflage veröffentlicht hat. Ihre Tochter Lumir (Juliette Binoche) kommt deshalb mit ihrem Mann (Ethan Hawke) und ihrer Tochter aus den USA nach Paris auf Besuch.

Bei der Ankunft im Garten wirken die drei wie Gäste in einem Hexenreich. Das Verhältnis der beiden Frauen ist belastet. Der Ruhm von Fabienne hatte einen Preis. Kaum verhohlen macht Lumir ihrer Mutter Vorhaltungen, dass sie von ihr zugunsten der Karriere vernachlässigt wurde.

Zu vorhersehbar

Der lichte, eher boulevardeske Tonfall des Films kommt daher, dass Deneuves Fabienne diese Vorwürfe keine Sekunde zu negieren scheint. Besser eine gute Schauspielerin, so ihre Devise, als ein tugendhafter Mensch. Den Alltag nutzt sie entsprechend wie eine lange Probe, die sie für den Ernstfall wappnet, sobald sie vor der Kamera steht.

Dieses Modell gerät in La vérité dann aber doch zu vorhersehbar in die Krise. Bei einem Filmdreh, bei dem Fabienne sich von einer aufstrebenden Schauspielerin verunsichert zeigt, gerät ihr Selbstbild allmählich aus dem Lot. Und die privaten Turbulenzen spiegeln sich allzu deutlich in dem fiktiven Szenario wider.

Dass die Krise zwischen Mutter und Tochter eher in Kreisen verläuft, dabei aber mit der Idee eines Familiengeheimnisses spielt, lässt den Film letztlich unentschieden erscheinen. Koreedas Talent der wie zufällig erhaschten Beobachtungen zeigt sich in La vérité eher an Nebenschauplätzen. Etwa wenn er Lumirs Tochter mit Roger van Hools kauzigem Großvater zusammenführt. Von einem Meister seines Fachs hätte man mehr erwartet. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 29.8.2019)