Warschau kapitulierte am 28. September 1939. Die Wehrmacht feierte ihren Sieg mit einer Parade.

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"Manchmal", sagt Karl-Hans Mayer und schmunzelt ein bisschen, "da frage ich mich selbst, warum ich immer noch da sitze." Im Jänner wird er 99 Jahre alt, er hat mehr erlebt als andere in zehn Leben.

Von September 1939 bis Mai 1945 war er Wehrmachtssoldat – in Polen, Dänemark, Frankreich, Russland, Ungarn und im heutigen Tschechien. "Aber ich hatte wohl Glück", meint er, "und eine Frohnatur war ich auch immer." Und irgendwie ist das Leben, das eigentlich anders verlaufen hätte sollen, ja immer weitergegangen.

1939 ist Mayer 18 Jahre alt, eigentlich möchte er in Berlin die Filmakademie absolvieren. Doch daraus wird nichts. Am 1. September beginnt Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg, der junge Mann aus Schleswig-Holstein wird zur Wehrmacht eingezogen und gleich nach Polen abkommandiert.

"Man denkt nicht viel nach"

"Ich fand Hitler zunächst nicht schlecht. Er versprach, Deutschland wieder groß zu machen, Arbeitslose gab es auch keine mehr", erinnert sich Mayer. Aber Krieg? Hatte er da vielleicht Zweifel? Mayer sitzt im Wohnzimmer seines Hauses in Wolfsburg und schweigt kurz. "Wir Soldaten hatten immer zu tun. Da hat man nicht so viel nachgedacht", sagt er dann. Außerdem: "Ich hatte ja einen Eid geschworen."

Karl-Hans Mayer zog nach dem Krieg nach Wolfsburg, wo er heute noch lebt.
Foto: Birgit Baumann

Nicht einmal 1941 in Südfrankreich wollte er den brechen, als Franzosen dem jungen deutschen Soldaten anboten, ihn im spanisch-französischen Grenzgebiet zu verstecken. Hätte er angenommen, es wäre Mayer der Russlandfeldzug erspart geblieben.

Doch selbst als er dort in Kalinin an der Wolga schwer verletzt wird, kehrt er nach seiner Genesung nach Russland zurück. "So blöd war man damals, so dumm", meint er knapp. Dabei gab es längst Zweifel: "Den Krieg gegen den Erzfeind Frankreich konnte man nachvollziehen. Aber bei Russland, das so groß ist, habe ich mir zum ersten Mal gedacht: Das schaffen wir nicht. Das hat auch Napoleon nicht geschafft."

Wie er die Kämpfe erlebt hat, wie er all das ausgehalten hat, möchte man von Mayer natürlich wissen. Wieder überlegt er kurz und erklärt dann in sehr freundlichem, aber abschließendem Ton: "Mit einem Maschinengewehr schießt man über große Distanzen, und im Nahkampf geht es ums Überleben." Und dann fügt er hinzu: "Weihnachten war jedes Jahr die schlimmste Zeit."

Lebensrettender Befehl

"Permanente Angst" erwähnt er noch, und dass er aus Furcht lange Zeit "hinter jedem Busch einen Russen gesehen" hat. Auf seinem Schoß hat Mayer ein Fotoalbum liegen. "Hier waren wir in Dänemark", sagt er, "und hier am Eiffelturm." Ein Foto von Hitler in Belgien gibt es auch.

Als Mayer vom Russlandfeldzug erzählt, zeigt er keine Bilder mehr: "Dort wurde nicht mehr fotografiert, da wurde nur noch geschossen." Im Herbst 1942 ist er als Schirrmeister für die Panzer und Militärfahrzeuge seiner Division verantwortlich. Ein Vorgesetzter schickt ihn nach Deutschland, um Ersatzteile für Panzer zu besorgen. "Sinnlos" findet Mayer dies, denn: "Es gab ja nichts mehr, was noch funktionierte."

Doch der Befehl rettet ihm das Leben. Er fährt natürlich, kehrt Wochen später wieder und fragt in Odessa, wie er jetzt nach Stalingrad komme. "Stalingrad gibt es nicht mehr", hört er, und dass die 6. Armee kapituliert hat. Seine Kameraden sind tot.

Der Krieg endet für Mayer am 6. Mai 1945 westlich von Prag, als sein Vorgesetzter mitteilt: "Die Division ist aufgelöst." Jeder solle schauen, wie er nach Hause kommt. Mayer geht zu Fuß nach Bayern, tarnt sich als Müllergeselle und wird dort dennoch von den Amerikanern verhaftet. Kurz denkt er an Flucht: "Meine Pistole hab ich ja noch gehabt, und die waren nur zu zweit im Jeep."

Zehn Jahre Gefangenschaft

Doch dann lässt er es. Wenig später wird er den Russen übergeben. Es folgen zehn Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, bis er 1955 nach Hause kommt.

Über die Vernichtung der Juden bis 1945 sagt Mayer nur so viel: "Man hat es nicht gewusst, sondern erst nach dem Krieg erfahren. Und dann konnte man sich diese riesige Zahl nicht vorstellen."

Vom Film und der Schauspielerei will Mayer nach dem Krieg nichts mehr wissen: "Der ganze Kulturbetrieb war mir zu amerikanisiert." Er geht nach Wolfsburg zu VW, heiratet und bekommt eine Tochter. Die wohnt heute nebenan, aber der Witwer kommt in seinem Haus gut allein zurecht.

Mehrmals hat sich Mayer nach dem Krieg in Russland mit ehemaligen Soldaten der Roten Armee getroffen, vor drei Jahren reiste er in Frankreich in die Orte seiner Soldatenzeit. "Baut Brücken, macht Frieden", möchte er heute vielen Politikern zurufen. Das Schreckliche an Kriegen sei, "dass diejenigen, die sie zu verantworten haben, ja nicht kämpfen müssen". Und er sagt: "Der Krieg hat mich zum Pazifisten gemacht."

Immer noch steckt in Mayers Lunge ein Projektil aus seiner Wehrmachtszeit bei Prag, vor drei Jahren hatte er einen Schlaganfall. Zu bremsen ist er nicht, dieser Tage wird sein neues Elektromobil geliefert. Mayer freut sich darauf: "Das alte fuhr nur sechs Stundenkilometer, aber mit dem neuen komme ich jetzt auf 15." (Birgit Baumann aus Wolfsburg, 29.8.2019)