Der satirische Youtuber und Videokünstler Itamar Rose versucht mit allen Mitteln, Youtube zu verstehen.

Foto: Avner Shahaf

Weltweit erfolgreich – auf Youtube nach eigenen Worten ein "Flop": Warum das so ist, versucht Itamar Rose in einer Dokumentation "100 Millionen Views", zu sehen am Mittwoch auf Arte, zu ergründen. "Ich habe also die Taschen gepackt und bin um die ganze Welt gereist, um mit viralen Stars zu reden, das Geheimnis der Viralität zu entdecken und selbst viral zu gehen."

Rose ist ein israelischer Satirevideokünstler und dafür bekannt, Passanten auf der Straße dazu einzuladen, an Rollenspielen teilzunehmen, die die alltäglichen Probleme der israelischen Kultur widerspiegeln.

gishaorg

Unter einem "viralen" Video, Foto und Co ("viral gehen") versteht man Material, das sich im Internet explosionsartig verbreitet. Meist teilen andere Personen den Inhalt über soziale Netzwerk oder privat. Durch vermehrtes Teilen wird die breite Masse darauf aufmerksam – die Views mehren sich.

Der Besuch beim "Double-Rainbow-Mann"

Die zentrale Frage, die sich der Künstler und Satiriker zu Beginn stellt: "Was wissen sie, was ich nicht weiß?" Und so führt ihn der erste Stopp zu jener Person, die mit ihrem Video im Jahr 2010 nicht nur mit 44.500.070 Views viral ging, sondern als Verursacher einer Welle an Memes, Remixes und Remakes gilt, die darauf folgten. Schauplatz: die Yosemitebear Mountain Farm. Dort trifft er den Youtuber Yosemitebear62 – auch als "Rainbow Warrior" bezeichnet.

Yosemitebear62

Warum veröffentlicht Yosemitebear62 seine Videos auf Youtube und nicht auf irgendeiner anderen Plattform? Er sieht Youtube als sicheren Ort für seine Inhalte. Auf Itamars Frage, ob "Bear" das Potenzial in ihm sehe, viral zu gehen, antwortet er: "Du musst loslassen. Du darfst es nicht wollen." Das sei das Geheimnis dahinter.

Ein Geheimnis namens Jimmy Kimmel

Tatsächlich ließ sich jedoch beweisen, dass es nicht das "Loslassen" war, das Yosemitebears Video viral gehen ließ. Youtube-Nutzer wurden zu einem gewissen Zeitpunkt auf sein Video aufmerksam. Und das war, als der amerikanische Comedian und Moderator Jimmy Kimmel seinen 11,4 Millionen Followern auf Twitter diese Nachricht schickte:

Rose findet hiermit also zwar keine eindeutige Antwort auf die Frage, wie er viral gehen könnte, klar ist jedoch: Er braucht einen Multiplikator wie Kimmel, der seine Videos zum richtigen Publikum bringt. Die Jimmy Kimmels seiner Community.

"Andere Mütter haben auch virale Söhne"

Youtuber-Agent Chris Pierdomenicos Begründung für das bisherige Fehlschlagen von Itamars Videos: Sein Fehler sei es, mit seinen Inhalten eine Botschaft vermitteln zu wollen. "Das geht im Grunde gegen jede Regel, um etwas viral gehen zu lassen." Daran hält sich Rose zunächst. Sollten seine Videos keine Botschaft haben, könne er sich ebenso gut an bereits da gewesenen viralen Trends ohne Bedeutung orientieren.

So entsteht eine Anlehnung an "Girl and Horse – Great Bond". In seinem Video ist jedoch seine Frau zu sehen, in einem "Bauernoutfit" und mit einer Ziege. Der Titel: "Woman with a Goat – Great Bond". Und in der Tat: Innerhalb einer Woche hat es mehr Views als jeder von Itamars politisch orientierten Inhalten. Letztendlich stoppt es bei einer Zahl von 130.000 – immer noch nicht genug, um als "viral" zu gelten.

Itamar Rose

Gefundenes Geld: Dokumentiere die dummen Momente deines Kindes

Das größte virale Kapital, das die Internet-Community zu bieten hat? Itamar zufolge: Heimvideos, insbesondere nach dem Prinzip "Teile den Sturz deines Kindes. Und dein rührendes Schlaflied. Und vielleicht wirst du zum viralen Star". Was der Grund dafür ist, dass diese Art Content ihren Weg in die Youtube-Kanäle dieser Welt findet? Spaß? Clicks? Das sei dahingestellt. Klar ist nur: Sie funktionieren und kommen gut an.

Was ihn zu einem der topviralen Kids bringt, die das Internet zu bieten hat: David aus dem Video "David after Dentist".

booba1234

Doch auch hier scheint viel mehr Zufall als System mitgespielt zu haben. Das Video sei – so behaupten Davids Eltern – allein dafür auf der Plattform veröffentlicht worden, um den Link mit der Familie zu teilen. Trotzdem wurde es in den USA als eines der legendärsten viralen Videos aller Zeiten gefeiert. Davon inspiriert, hielten weltweit Eltern die schlimmsten Momente ihrer Kinder fest, kassierten dafür Clicks und brachten Youtube nebenbei viel Geld ein.

Jimmy Kimmel Live

Youtube ist ein Geschäft

Im Jahr 2006 kaufte Google Youtube um knapp 1,65 Milliarden Dollar. Mitunter war die Popularität unter den Nutzern einer der Hauptgründe für den Kauf. Judson Laipply war mit seinem 291.835.161-Views-Video "Evolution of Dance" einer der Youtube-Vorreiter zu dieser Zeit.

Judson Laipply

Heute jedoch geht es gar nicht mehr um die Viralität, so Laipply. Er erklärt dies in seinem Gespräch mit Itamar so: "Youtube will nicht ein Video, das 300 Millionen Views kriegt. Sie wollen jemanden, der 300 Videos produziert, mit jeweils einer Million Views."

Und dabei rücken die Abonnenten immer mehr in den Vordergrund, während die Views zwar nicht unwichtig, aber immer weniger entscheidend für den Erfolg werden. Am Ende des Tages seien es zwar die viralen Hits, die die Marke antreiben, der beständig neue Inhalt jedoch treibe das Geschäft an, behauptet der Youtuber. "Denn letztendlich ist Youtube ein Geschäft."

Dabei ist der Zugang zu dem Publikum der Youtuber der entscheidende Punkt. Der kostenlose Inhalt, der für die Plattform kontinuierlich produziert wird, bringt ihr dann Geld ein, wenn Werbekunden mit Zielgruppen verbunden werden. Denn jeder Youtuber hat eine bestimmte Gruppe an Menschen, die er anspricht. Somit lassen sich gewisse Produkte leichter vermarkten. "Youtuber haben riesigen Einfluss auf ihr Publikum. Definitiv mehr als normale Promis. Denn das Publikum vertraut ihnen, es fühlt sich mit ihnen verbunden", sagt Laipply.

"In einer Welt, in der der Algorithmus Gott ist"

Um diese Menschenmassen erreichen zu können und Abonnenten zu gewinnen, ist es nötig, den Algorithmus der Plattform zufriedenzustellen und mit ihm zu arbeiten. Youtube-Berater Philip Zeplin verrät Itamar hierzu: "Ein Algorithmus ist im Grunde der Teil des Codes von Youtube, der entscheidet, welches Video welchen Rang einnehmen sollte. Drei Videos sind das Minimum, damit dich der Algorithmus nicht hasst."

Seine Kanäle mit so viel Material wie möglich zu bespielen, so wie die Youtuberinnen Bria Kam und Chrissy Chambers (alias: "Bria&Chrissy – The Lesbian Duo", 420.065.600 Views und 1.006.728 Abonnenten), erweise sich als besonders gutes Mittel zum Zweck, um nicht im Videomeer unterzugehen.

Ihre Einstellung dazu: "Die glanzvolle Seite daran ist, dass du dein eigener Chef bist, ein eigenes Unternehmen hast und die Entscheidungen treffen kannst. Aber andererseits kannst du als Unternehmer nie aufhören zu arbeiten. Du musst das Biest immer füttern. Sechs Videos pro Woche."

BriaAndChrissy

Dies scheint einer der Mitgründe zu sein, warum ASMR-Videos zurzeit eine der beliebtesten Formen der Plattform Youtube sind. Der Sinn dahinter, so heißt es in der Dokumentation, ist, sich zu entspannen – einzuschlafen. Daher werden sie meist bis zum Ende gesehen, was die Eigentümer im Algorithmus ganz nach oben bringt.

Der Youtube-Google-Skandal

Abgesehen von dem Algorithmushindernis stößt Itamar in seiner Doku auf eine der weiteren großen Schattenseiten des Youtube-Daseins. Im März 2017 begannen große Werbekunden, dem Unternehmen Geld zu entziehen. Grund dafür waren Werbespots, die in gewalttätigen, rassistischen oder teilweise gar extremistischen Videos geschalten wurden.

Die Reaktion der Firma erfolgte rasend schnell und sehr radikal: Die Schaltung von Werbung wurde nicht nur derartigen, sondern auch vielen anderen Videos und Kanälen, die der Algorithmus als nicht "werbefreundlich" eingestuft hatte, verweigert. Davon waren beziehungsweise sind auch die Youtuberinnen Bria und Chrissy betroffen – eine Massenklage ist die Folge.

BriaAndChrissy

"Je mehr ich recherchiere, desto weniger Sinn ergibt es. Youtube kam nicht nur der Bitte der Marken nach, Werbung zurückzuziehen, sondern blendete Millionen Videos und Kanäle aus. Oder löschte sie ganz", sagt Itamar.

Dem nicht genug: Auch Videos, die Kriegsverbrechen dokumentieren, wurden entfernt. Die Befürchtung sei, dass einige dieser Videos die einzigen Beweise für die stattfindenden Kriegsverbrechen gewesen sein mögen.

Seid authentisch – oder eben nicht

Einer der Hauptgründe für die Massenklage vieler Youtuber war nicht etwa, dass ihre Videos entfernt wurden, sondern vielmehr dass die Gründe dafür nicht nachvollziehbar seien. Viele stützen sich hierbei auf die Annahme, dass vor allem Inhalte, die religiöse, politische oder sexuelle Themen (auch LGBTQ+-Content) behandeln, vom Algorithmus nicht länger zugelassen werden.

OnisionEncore

Die Plattform tatsächlich zu verlassen sei nur für wenige von ihnen eine Option. Sie, die sie viele Jahre und einiges an Geld investiert haben, so Itamar, würden mit nichts zurückbleiben. Youtube ist Eigentümer der Kanäle, und nichts, was dort veröffentlicht wurde, könne mitgenommen werden.

Wie erwartet sind die abschließenden Worte des Satirikers in seiner Dokumentation pure, aber inspirierende Kritik an der Plattform selbst: "Mein letzter Rat an euch ist: Bleibt, wie ihr seid. Außer es deprimiert die Leute. Seid authentisch. Außer ihr seid schwul oder irgendwas Seltsames. Und erhebt eure Stimme. Außer ihr seid Syrer. Und macht es euch nicht zu schwer. Nehmt es leicht. Kauft euch etwas, und alles wird gut." (Stefanie Weissacher, 2.9.2019)