Trotz Zinsflaute haben insbesondere Frauen Vorbehalte gegenüber Investitionen am Finanzmarkt.
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"Wären es die Lehman Sisters gewesen und nicht die Lehman Brothers – die Welt sähe heute anders aus." Dieses Zitat von Christine Lagarde wird gerne aus dem Archiv geholt, um die allzu risikofreudige männerdominierte Finanzwirtschaft zu kritisieren. Gierige Zocker, "Player" in Anzug und Krawatte – das Bild des gewissenlosen Wall-Street-Spekulanten haftet seit der Lehman-Pleite 2008, dem Höhepunkt einer Finanzkrise, die eine tiefe Rezession in zahlreichen Staaten rund um den Globus nach sich zog, an der Finanzbranche. Milliardenwerte wurden an den Börsen vernichtet, die SteuerzahlerInnen kam nicht nur die Bankenrettung teuer zu stehen. Doch trotz aller Absichtserklärungen: Am geringen Frauenanteil in den Führungsetagen der Banken und Versicherungen hat sich kaum etwas geändert. Frauen und Geld, das geht scheinbar nicht zusammen.

Frauen anwerben

Ein Befund, der sich auch auf die Kundinnen der Banken umlegen lässt. Im März veröffentlichte die Erste Bank und Sparkasse eine repräsentative Umfrage, der zufolge sich Frauen in Österreich deutlich weniger für Wirtschafts- und Finanzthemen interessieren – und sie investieren auch weniger. Nur sechs Prozent der Frauen besitzen Einzelaktien, bei den Männern sind es hingegen 17 Prozent. Kaum eine Bank, die rund um den Internationalen Frauentag nicht entsprechende Umfragen oder interne Analysen veröffentlicht: Bei der wenig risikofreudigen weibliche Zielgruppe ortet die Branche großes Wachstumspotenzial.

Christine Lagarde, ehemalige französische Wirtschaftsministerin und Direktorin des IWF, wird indes bald zu den einflussreichsten Personen der Finanzwelt zählen: Im Herbst folgt sie als erste Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank Mario Draghi nach. Lagarde übernimmt das Amt zu einem kritischen Zeitpunkt: Die deutsche Wirtschaft strauchelt, weltweit sorgen Handelskonflikte und der bevorstehende Brexit für wirtschaftspolitische Unsicherheit. Und auch die unkonventionelle Geldpolitik der Amtszeit Draghis ist höchst umstritten.

"Enteignung" der SparerInnen?

Für die durchschnittliche Bankkundin wurde diese Geldpolitik zuletzt bei einem Blick auf das Sparkonto greifbar: Seit 2016 setzt die Europäische Zentralbank neben zahlreichen anderen Maßnahmen auf eine Nullzinspolitik, die Investitionen ankurbeln soll. Lediglich 0,2 Prozent Zinsen waren es im Juni, die SparerInnen für ihre Einlagen bei einer Bindung von einem Jahr durchschnittlich erhalten haben, wie die Statistik der Oesterreichischen Nationalbank ausweist. Berechnet man die Inflation mit ein, wird Geld, das auf dem Sparbuch liegt, de facto weniger wert. Ein Effekt, der allerdings nicht neu ist: Der Gewinn aus hohen Sparzinsen wurde auch in vergangenen Jahrzehnten durch eine entsprechend hohe Inflation aufgefressen. SchuldnerInnen profitieren indes von niedrigen Kreditzinsen.

Angesichts der sehr ungleich verteilten Vermögen – die vermögendsten zehn Prozent der österreichischen Haushalte besitzen mehr als die Hälfte des Gesamtbruttovermögens – profitiert aber nur eine kleine Gruppe vom Boom am Immobilien- und Finanzmarkt. Der Ungleichheit, die so weiter befeuert wird, müsste fiskalpolitisch entgegengetreten werden, kommentieren ÖkonomInnen.

Dass trotz Zinsflaute insbesondere Frauen Vorbehalte gegenüber Investitionen am Finanzmarkt haben und das Sparbuch bei den ÖsterreicherInnen nach wie vor die beliebteste Anlageform darstellt, lässt sich nicht nur mit der gewachsenen Kultur der Sparbüchse und des Bausparvertrags erklären. Kurzfristig nicht über Erspartes verfügen zu können und einen teilweisen oder gar Totalverlust am Kapitalmarkt zu riskieren: für Menschen mit niedrigem Einkommen wie die Altenpflegerin oder die Teilzeitangestellten im Handel ein Luxus, den man sich leisten können muss.

Anlegen mit "Investorella"

Dass Wertpapiere für die große Mehrheit der Frauen fremdes Terrain darstellen, möchte Larissa Kravitz ändern. Die geprüfte Aktien- und Optionshändlerin arbeitet, seit sie 18 ist, in der Finanzbranche und setzt darauf, Frauen zu nachhaltigen Investments zu bewegen. Wo immer Kravitz tätig war – anderen Frauen begegnete sie in der Finanzwelt äußerst selten. "Ich hatte selbst das Vorurteil, dass Frauen sich nicht für den Finanzmarkt interessieren", erzählt sie im STANDARD-Gespräch. Dementsprechend überraschten sie die vielen Reaktionen, als sie in der Facebook-Gruppe des Wiener Frauennetzwerks Sorority ein Workshop-Angebot für Investment-Einsteigerinnen postete – schnell war das Seminar ausgebucht.

Mittlerweile betreibt Kravitz einen Podcast, wo sie sich "Investorella" nennt, findet den Finanzmarkt "enorm spannend" und entwickelt in "Live-Trading-Workshops" gemeinsam mit den Teilnehmerinnen Investment-Ideen. Zu wenig Zeit, zu wenig Kapital, ethische Bedenken – auf jeden Einwand hat Kravitz eine Antwort parat. Schon wer 30 Euro pro Monat beiseitelegen kann, könne langfristig in börsengehandelte Fonds (ETFs) investieren, über ein Rating-System ließen sich ganz einfach Unternehmen identifizieren, die ihre MitarbeiterInnen fair behandeln und auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz setzen. "Wer gesund leben und entsprechend vorsorgen möchte, muss sich auch Wissen aneignen und Zeit investieren, das kann man mit finanziellen Investments vergleichen", lautet das Credo von "Investorella". Als Workshop-Trainerin warnt Kravitz vor unseriöser Werbung für Finanzprodukte und falschen Ertragsversprechen ebenso wie vor überteuerten Investmentprodukten, die Banken und Versicherungen anbieten.

Dass sie bei Frauen auf wachsendes Interesse stößt, führt die ausgebildete Finanzmathematikerin weniger auf niedrige Zinsen, sondern auf die Sorge um die eigene Pension zurück. "In der Generation meiner Mutter gibt es sehr viele Frauen, die schockiert darüber sind, wie niedrig ihre Pension sein wird. Ich glaube, das wiederum sensibilisiert die Töchtergeneration", sagt Kravitz.

Pensionsschock

Ein Thema, das auch Claudia Prudic nur allzu gut aus ihrer Beratungspraxis kennt. Die Psychologin berät Frauen im "Wendepunkt" in Wiener Neustadt und erlebte den Schock und die Empörung mit, als mit der Einführung des Pensionskontos Frauen in Österreich über ihre voraussichtliche Pensionshöhe informiert wurden. "Viele sind aus allen Wolken gefallen und haben sich erstmals mit dieser Ungerechtigkeit auseinandergesetzt", sagt Prudic im STANDARD-Gespräch. Die drohende Altersarmut – schließlich oft Folge jahrzehntelanger unbezahlter Care-Arbeit, die im erwerbszentrierten Sozialsystem in Österreich enorme finanzielle Nachteile mit sich bringt.

Aber auch in anderer Hinsicht sind Finanzen für viele Frauen ein schwieriges Terrain, weiß Prudic. "In Beziehungen mit Männern geben Frauen das Thema Geld oft an sie ab – und im Falle einer Trennung haben sie dann keine Ahnung, wie viele Schulden die Familie hat oder was das Haus wert ist", erzählt die Psychologin. Ein Phänomen, das quer durch alle Schichten zu beobachten sei.

In einem eigens entwickelten Workshop versuchte Prudic daher Frauen zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geldbiografie anzuregen. Gesellschaftliche Rollenzuschreibungen, die eigene Sozialisation und familiäre Vorbilder – all das wirke auf den persönlichen Umgang mit Geld ein. "In Familien, in denen Frauen nur ein Haushaltsgeld bekommen haben, zieht sich das oft wie ein roter Faden durch Generationen", sagt Prudic.

Politischer Auftrag

Verteilungsgerechtigkeit – für die Psychologin dennoch ein politischer Auftrag. Viel zu oft begegnet sie in der Beratungsstelle Frauen, die strukturelle Probleme als individuelles Scheitern erleben würden. "Wenn PolitikerInnen an Frauen appellieren, sich eine Vollzeit- statt einer Teilzeitstelle zu suchen, wird ein strukturelles Problem einfach auf sie abgewälzt", sagt Prudic.

Für gesellschaftliche Umverteilung kämpfen und nebenbei an der Börse investieren, lässt sich das vereinbaren? Für Larissa Kravitz zumindest kein Widerspruch. "Was die meisten Leute vergessen: Wenn sie eine Aktie von einem Unternehmen kaufen, dann haben sie auch eine Stimme", sagt sie. Kravitz setzt nicht auf Revolte, sie will das Finanzsystem gemeinsam mit Mitstreiterinnen von innen heraus verändern. Ein äußerst ambitioniertes Ziel – wofür es von der designierten EZB-Chefin Lagarde vermutlich Applaus gäbe. (Brigitte Theißl, 29.8.2019)