Einige der etwa erbsengroßen Minihirne in der Petrischale.
Foto: Muotri Lab/UCTV

Wien / San Diego – Es war einer der spektakulärsten wissenschaftlichen Durchbrüche, die in den vergangenen Jahren in einem österreichischen Labor gelungen sind: Im Jahr 2013 präsentierte das Team um um Jürgen Knoblich vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) erstmals Minihirne aus der Petrischale. Bei diesem Verfahren werden embryonale Stammzellen durch spezielle Zellkulturverfahren dazu gebracht, die einzelnen Schritte der embryonalen Gehirnentwicklung im Labor nachzuahmen und sich zu Nervenzellen auszudifferenzieren.

In wenigen Monaten bildet sich so ein etwa erbsengroßer Gewebeverband, der dem Stadium eines embryonalen Gehirns entspricht. In den vergangenen Jahren hat diese Methode weltweit Anwendung gefunden, da sich die Minihirne aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit "richtigen" menschlichen Gehirnen als vielversprechendes Modell zur Untersuchung etwa von neurologischen Erkrankungen etabliert haben.

"Beispiellose neuronale Aktivitäten"

Auch Forscher um Alysson Muotri von der Universität von Kalifornien in San Diego arbeiten mit diesen erbsengroßen Organoiden, um etwa krankhafte Fehlentwicklungen des Gehirns oder die Wirkung von Medikamenten zu untersuchen. Nun freilich berichten sie im Fachblatt "Cell Stem Cell" über eine Entdeckung, die auch erwachsenen menschlichen Hirnen einiges zum Nachdenken gibt: Das Team um Muotri behauptet nämlich, an mehrere Monate alten Minihirnen elektrische Aktivitäten gemessen zu haben, die den Hirnwellen von Frühchen (also früh geborenen Babys) ähneln. "Das Niveau der neuronalen Aktivität, das wir sehen, ist im Labor beispiellos", so Muotri.

Konkret züchteten die Forscher zahlreiche der dreidimensionalen Organoide aus speziellen Stammzellen und ließen sie zehn Monate im Labor wachsen. Die Umgebungsbedingungen gestalteten sie so, wie sie für die Entwicklung der Großhirnrinde eines menschlichen Gehirns notwendig sind. Anhand von genetischen Markern untersuchten die Wissenschafter, welche Zellen in verschiedenen Stadien im Organoid zu finden sind. Nach einem Monat bestanden die Zellkomplexe zu 70 Prozent aus Vorläuferzellen.

Schnitt durch eines der mehrere Monate alten Minihirne. Die verschiedenen Farben stehen für die verschiedenen Zelltypen.
Foto: Muotri Lab/UCTV

Nach drei und sechs Monaten waren vor allem spezialisierte Zellen des Gehirns zu finden, etwa Gliazellen und Nervenzellen. Die Forscher entdeckten auch Nervenzellen mit sogenannten GABA-Rezeptoren, die im Labor zuvor noch nicht erzeugt worden seien. Damit seien sie nach eigenen Angaben einem Modell, das die frühen Stadien eines hochentwickelten Nervenzellnetzwerks erzeugen kann, einen Schritt näher gekommen.

Die etwa erbsengroßen Minihirne wuchsen auf einer Platte mit zahlreichen Elektroden. So konnte das Team um Muotri immer wieder die elektrische Aktivität des sich entwickelnden neuronalen Netzwerks bestimmen. Diese Messungen verglichen sie mit Messungen von Gehirnaktivitäten, die andere Forscher von zu früh geborenen Babys aufgezeichnet hatten. Und dabei wollen sie die behaupteten Ähnlichkeiten festgestellt haben.

Eine Kartierung der elektrischen Aktivitäten in einem Minihirn: Orange Flächen bedeuten hohe Aktivität, schwarze Flächen sind ohne jede Aktivität.
Foto: Muotri Lab/UCTV

Muotri und Kollegen sind sich dessen bewusst, dass ihre Forschung auch gesellschaftliche und ethische Fragen aufwirft. Sie betonen, dass die Organoide sich in vielerlei Hinsicht vom menschlichen Gehirn unterschieden. "Das Organoid ist immer noch ein sehr rudimentäres Modell – wir haben keine anderen Gehirnteile und Strukturen", sagt Muotri. So fehlten etwa Blutgefäße, auch die Unterteilung in zwei Hirnhälften gebe es nicht.

Skepsis bei Forscherkollegen

Oliver Brüstle vom Universitätsklinikum Bonn, der an der Studie nicht beteiligt war, bescheinigt der Gruppe um Muotri, eine gute, seriöse Arbeit geleistet zu haben, die technisch solide gemacht sei. Er kritisiert aber die Interpretation, dass die neuronalen Aktivitäten mit denen von Menschen vergleichbar seien: "Mit einer solchen Aussage sollte man sehr vorsichtig sein."

Ähnlich sieht das auch Jürgen Knoblich, der Erfinder der Minihirne. Er hält Mutris Vergleich der Hirnaktivitäten von Minihirnen mit jenen von Frühchen sogar für unangemessen: "Diese Interpretation geht zu weit und kann falsche Hoffnungen wecken." In der wissenschaftlichen Gemeinschaft gebe es zudem Zweifel daran, dass mit der flachen Elektrodenplatte tatsächlich Aktivitäten des gesamten Organoids gemessen wurden.

Einig sind sich freilich alle drei Wissenschafter, dass Minihirne ein sehr gutes Modell darstellen, das große Chancen für die Erforschung und Therapie von Hirnerkrankungen bietet. (tasch, dpa, 30.8.2019)