Radfahren ist nicht nur gesund und gratis, sondern zu einem gewissen Grad auch ein selbstloser Akt. Von jedem Kilometer, den man statt mit dem Auto mit dem Rad zurücklegt, profitiert die Gesellschaft. Wie sehr, das hat ein internationales Forscherteam im April dieses Jahres in Cash ausgedrückt: 18 Cent erstrampelt man als Radfahrer zugunsten der Allgemeinheit mit jedem Kilometer, weil man Umwelt und Gesundheitssystem weniger zur Last fällt. Europaweit sind das 24 Milliarden Euro im Jahr. Gleichzeitig verursacht der Autoverkehr der Allgemeinheit Kosten von 500 Milliarden pro Jahr.

Radwege, das Herzstück jeder Fahrradstadt.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Städte können sich also über jeden Radfahrer freuen, auch weil sie die Straßen weniger verstopfen. Sieht man sich die Autonutzungsstatistik des österreichischen Verkehrsministeriums an, könnte es ganz einfach sein: Vier von zehn Autofahrten sind kürzer als fünf Kilometer und damit in Fahrradreichweite, 61 Prozent kürzer als zehn Kilometer und mit dem E-Bike bewältigbar. Warum halten so viele trotzdem am Auto fest? Wie könnte man sie überzeugen? DER STANDARD bat Experten um Rat.

Hermann Knoflacher ist emeritierter Professor an der TU Wien und hat für zahlreiche Städte Verkehrskonzepte entworfen – darunter Wien, Graz und Hamburg. Aus seiner Abneigung gegenüber dem Auto macht er keinen Hehl: Vergangenes Jahr fiel er mit der Aussage auf, er habe in Wien "systematisch Staus erzeugt". Zu der Aussage steht er noch immer, wenn sie damals auch "überspitzt formuliert" war. Christian Gratzer ist Sprecher beim Verkehrsclub Österreich (VCÖ), der sich als gemeinnützige Organisation für eine nachhaltige Verkehrswende versteht. Christian Rupp arbeitet bei der Mobilitätsagentur der Stadt Wien, die das Zu-Fuß-Gehen und Radfahren in der Stadt fördern will.

Radwege, Radwege, Radwege

Christian Rupp von der Wiener Mobilitätsagentur vergleicht Radwege mit Mistkübeln: Jeder benutzt sie ganz selbstverständlich, weil sie da sind. Und wenn eine neue Straße gebaut wird, plant man ohne nachzudenken auch Mistkübel ein. "Genauso wird es mit dem Fahrrad sein", glaubt Rupp.

Nicht nur auf die Größe des Radwegenetzes kommt es an, sondern auch auf die Sicherheit. Denn Angst hält viele Menschen vom Radfahren ab. "Dort, wo es kritisch wird" – an großen Kreuzungen – "brauchen Radfahrer klare Verhältnisse", so Knoflacher. Und Christian Gratzer bemisst die Qualität der Verkehrsplanung daran, wie viele Kinder alleine mit Rad unterwegs sind.

Arbeitgeber als Impulsgeber

Auch wenn es nett gemeint sein mag: Viele Unternehmen fördern mit Gratisparkplätzen den Autoverkehr. Man muss nicht gleich den Firmenparkplatz zur Blumenwiese machen und die Mitarbeiter aufs Rad zwingen. Es geht auch anders. In Kalifornien gibt es etwa eine gesetzliche Parking-Cash-out-Regelung: Wenn Mitarbeiter ihren Gratisparkplatz nicht beanspruchen, muss das Unternehmen ihnen den Gegenwert des Parkplatzes auszahlen. Das motiviert.

Was wenige wissen: Wer für die Arbeit das Fahrrad nimmt – um Kunden zu besuchen etwa -, hat in Österreich Anspruch auf steuerfreies Kilometergeld von 0,38 Euro pro Kilometer.

Bäume halten Radwege und Köpfe kühl.
Foto: APA/ANNIEV KOSTA

Grüne Dächer für Radler

Der Klimawandel heizt unsere Städte auf. Im Jahr 2050 könnte Wien so heiß sein wie heute Athen – mit Temperaturen weit über 40 Grad. Verkehrsflächen, die Hitze speichern, verstärken dieses Problem. Während es Autofahrern aus der Klimaanlage entgegenbläst, werden Radfahrer nur durch den Fahrtwind gekühlt. Knoflacher empfiehlt deshalb, mit Bäumen für Schatten und Abkühlung zu sorgen. Das komme auch den Fußgängern zugute.

Bauordnung überdenken

Die vor 80 Jahren per Führererlass beschlossene Reichsgaragenordnung sah für jeden Neubau eine bestimmte Zahl an Parkplätzen vor. Das Gesetz lebe heute in Bauordnungen weiter, so Knoflacher: "Das ist die Erbsünde." Bedenke man, dass ein Quadratmeter Fläche in mehrstöckigen Häusern viel effizienter genutzt wird, müsste ein Parkplatz 300 bis 600 Euro pro Monat kosten – "und der Weg zur Garage mindestens so weit sein wie der zur Haltestelle".

Die Bauordnung ist veraltet, sagt Verkehrsexperte Knoflacher.
Foto: Getty Images/iStockphoto/nonnie192

Fahrradkultur fördern

Wien ist eigentlich keine klassische Fahrrad-, sondern eine Öffi- und Fußgängerstadt, der Autoanteil ist niedriger als in der Fahrrad-Vorzeigestadt Kopenhagen. Das Rad müsse deshalb eher als Alternative zum Autoverkehr beworben werden, sagt Rupp. Das funktioniere ein "bisschen so wie Produktwerbung", aber auch, indem man Menschen besser über die Möglichkeiten informiert und berät – bis die Subkultur zum Mainstream wird.

Offen bleiben

Radwege sind die Arterien, die eine Fahrradstadt am Leben erhalten. Aber sie sind nicht alles. Radler brauchen Abstellanlagen, Bike-Sharing-Systeme für spontane Fahrten und Transportmöglichkeiten in Öffis für Langstrecken und Wolkenbrüche. Warum nicht einmal über Fahrrad-Superhighways vom Umland in die Stadt nachdenken? Auch das Fahrrad entwickelt sich weiter und braucht neue Verkehrskonzepte. Das zeigen auch die 600.000 E-Bikes, die es laut VCÖ inzwischen in Österreich gibt. (Philip Pramer, 1.9.2019)