Nur wenige ihrer engsten Freunde erfuhren durch Weitersagen vom Tod der 98-jährigen Nie Yuanzi. Sie war einst eine legendäre Galionsfigur der chinesischen Kulturrevolution (1966 bis 1976). Nies Feinde nannten sie eine "Furie", sie selbst aber sagte dem STANDARD, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen worden war: "Ich bin nur das Streichholz gewesen. Vorsitzender Mao war der Brandstifter."

Nie Yuanzi büßte mit jahrelanger Haft für die Kulturrevolution. Bis zu ihrem Tod kämpfte sie um eine Rehabilitierung.
Foto: Johnny Erling

1983, sieben Jahre nach dem Tod Mao Zedongs, wurde Nie zu 17 Jahren Haft für ihre maßgebliche Rolle als Anführerin der entfesselten Rotgardisten und als angebliche Anstifterin der Millionen Opfer fordernden Kulturrevolution bestraft. Vorzeitig entlassen, klagte sie bis zu ihrem Tod am Mittwochmorgen vergeblich auf Rehabilitierung. "Ich habe als linksradikale Fanatikerin schwere Fehler gemacht, aber keine Verbrechen begangen."

Protest-Wandzeitung als Schmähschrift

Weltbekannt wurde Nie 1966. Als Parteisekretärin der philosophischen Fakultät der Universität Peking hängte sie am 25. Mai mit sechs Vertrauten eine aufsehenerregende Protest-Wandzeitung auf. Ihre Schmähschrift prangerte die Hochschulführung als neue Bourgeoisie an.

Sie kam Mao wie gerufen. Sechs Tage später antwortete er mit "Meiner Wandzeitung" unter dem Titel "Bombardiert das Hauptquartier!". Sein Pamphlet wurde zum Startschuss der Kulturrevolution, in der Mao zuerst die studentischen Roten Garden auf seine innerparteilichen Gegner hetzte.

Die damals 44-jährige Nie, die Mao spöttisch und anspielend "Alter Buddha" nannte, wurde zu seiner Bannerträgerin. Eine Zeitlang ging sie bei ihm ein und aus. Doch schon zwei Jahre später fielen sie und andere Rotgardistenführer bei Mao in Ungnade, als er die Studenten nicht mehr brauchte. "Er hat uns alle angelogen und ausgenutzt", klagte Nie später.

Bald in Ungnade gefallen, dann im Gefängnis

Acht der zehn Jahre der Kulturrevolution habe sie unter Ächtung und Arrest verbracht. Die rehabilitierten Opfer Maos aber verlangten später, Nie und andere radikale Studentenaktivisten gerichtlich zu verurteilen. Sie büßten mit jahrelanger Haft für die Kulturrevolution. Nur der hauptschuldige Diktator und Staatengründer Mao blieb verschont, er wird in China weiter offiziell verehrt.

Nie bekannte in ihren letzten Lebensjahren, in dem Zwiespalt zu leben, sowohl Täterin als auch Opfer gewesen zu sein. Das beschreibt sie auch in ihren 2005 veröffentlichten Erinnerungen, die nur in Hongkong erscheinen konnten. In Peking, wo sie in einem unauffälligen Hochhaus wohnte, durfte über sie nicht berichtet werden.

Auch die Nachricht ihres Todes wurde nicht gemeldet. Chinas Partei feiert mit gigantischem Pomp und Militärparade am 1. Oktober 70 Jahre der glorreichen Gründung der Volksrepublik. Da passen Erinnerungen an die mörderische Kulturrevolution und an die Frage, wer dafür die Schuld trägt, nicht ins Bild. (Johnny Erling, 30.8.2019)