STANDARD: Frau Passig, Sie haben ein Buch über den Literaturbetrieb und das Internet geschrieben. Dazu vielleicht ein Quereinstieg: Haben Sie sich vor der EU-Wahl das Rezo-CDU-Video angeschaut?

Passig: Ich habe das nur am Rande mitbekommen. Im Videoanschauen bin ich ganz schlecht. Wenn ich etwas zehnmal empfohlen bekomme und es drei Minuten lang ist, dann schaue ich es mir vielleicht an.

Kathrin Passig: "Bei Goodreads habe ich eine Schublade für 'female authors'."
Foto: Droschl-Verlag

STANDARD: Literaturkritik steht vor einer vergleichbaren Herausforderung wie die politische Kritik. Videoformate werden wichtiger. Wie halten Sie es mit Youtube?

Passig: Gar nicht. Ich bin wahrscheinlich der textfixierteste Mensch der Welt. In den letzten Jahren habe ich ab und zu etwas gefunden, wofür Youtube sich gut eignet: zum Beispiel Anleitungen zum richtigen Holzhacken. Das ist dort besser dokumentiert als sonst wo. Aber bei allen anderen Formen, die als Text besser funktionieren, bin ich superungeduldig.

STANDARD: Der Bachmannpreis ist eine Mischform: Literaturkritik, die auf Argumentationshöhe von geschriebenen Texten sein will, aber live.

Passig: Im Deutschunterricht haben wir einmal eine Diskussion angeschaut, das fand ich damals quälend. Der Bachmannpreis ist dann aber über den Umweg des Internets zu mir zurückgekommen, denn bei den Höflichen Paparazzi gab es diese Idee, nach Klagenfurt zu fahren, so als fahre man zu einem Fußballturnier. Ich habe mich erst geweigert, den Blödsinn mitzumachen. Vor Ort war es dann aber sehr lustig.

STANDARD: Ihre Netzaffinität hat also einen Wien-Bezug über dieses Online-Forum, das Ende der 1990er entstand. Christian Ankowitsch und Tex Rubinowitz waren federführend. Man notierte etwas über Begegnungen mit Prominenten.

Passig: Die Paparazzi gingen aus Alles Bonanza hervor, das war so eine Nostalgieforum, auf dem man sich über Eissorten aus den 70er-Jahren austauschte. Für die Paparazzi war ich schlecht geeignet, weil ich mir keine Gesichter merken kann. Ich könnte Angela Merkel gegenübersitzen und würde sie nicht erkennen. Ich hatte vor den Paparazzi schon sechs Jahre Dinge im Netz gemacht, zum Beispiel das Parkverbot. Das Parkverbot ist bis heute auf dem Stand von 1998 unverändert online. Dann war ich viel im IRC, das ist ein ganz altes Chat-System aus den Achtzigern.

STANDARD: Welche Themen gab es damals in den Chats?

Passig: Ich habe meine Zeit hauptsächlich auf #bdsm.de zugebracht. Befreiend war das in erster Linie als Informationsvermittlung. Später fand sich das ganz normal auf Wikipedia. Das kommt ja auch in Fifty Shades of Grey vor: Wo macht Anastasia sich schlau? Man kann sich kaum vorstellen, wie schwierig es vor 2001 war, als es die Online-Enzyklopädie noch nicht gab, an die allereinfachsten Informationen zu kommen. Zum Teil geht es einfach um technische Fragen und um Rollenvorbilder. Jeder weiß ungefähr, wie eine normale Beziehung funktionieren sollte. Manche sind dann bei ihren ersten Kontaktaufnahmen auf totale Vollidioten reingefallen, die ihnen gesagt haben, das muss so und so sein bei uns Sadomasochisten.

Kathrin Passig, "Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik". € 15,- / 120 Seiten. Droschl-Verlag, Graz 2019
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STANDARD: Könnte man IRC heute mit Reddit vergleichen?

Passig: Generell übernimmt Reddit viele Funktionen, die das Usenet früher hatte. Damals war das nicht viel mehr als so etwas wie schwarze Bretter, da ja die Übertragung möglichst datensparend laufen musste. Als ich da schon wieder raus war, fing das langsam an mit dem Bildertauschen. Die mussten in Einzelteile zerlegt und dann wieder zusammengesetzt werden. Ein Bekannter hat damals auf Kosten der Uni, die eine Standleitung hatte, eine riesige Pornobildersammlung angelegt.

STANDARD: Wie kamen Sie zum Bücherschreiben?

Passig: Ich wollte mit Literatur nichts zu tun haben. Geld habe ich mit dem verdient, was damals Webdesign hieß. Man hat Inhalt ins Web befördert und das mehr oder weniger hässlich gestaltet. Davon habe ich bis 2001 gelebt. Danach habe ich ein paar Jahre Untertitel für DVDs übersetzt.

STANDARD: Ihre Vorträge in Graz laufen darauf hinaus, dass der Literaturbetrieb dem Internet eher ignorant gegenübersteht.

Passig: Pauschal kann ich das nicht sagen. Ich habe nur zufällig diese Rede von Jonathan Franzen gehört, in der er sagt, dass man sich als Autor davon so weit wie möglich fernhalten sollte. Das Publikum war begeistert. Später habe ich erfahren, dass Franzen schon einen einschlägigen Ruf hat. Ich muss diese Diskussionen oft führen: Ist das Internet der Untergang der Literatur oder des Buchhandels?

STANDARD: Ist an Franzens Furcht vor der Zerstreuung gar nichts dran?

Passig: Meine Erinnerung an die vordigitale Zeit ist vage. Ich weiß, dass ich mich viel gelangweilt habe. Früher habe ich bei jeder Gelegenheit auf irgendetwas Lesbares auf Papier geschaut, und jetzt schaue ich bei jeder Gelegenheit auf Buchstaben im Internet. Da könnte man natürlich sagen, das ist eine Ablenkung. Aber wovon?

STANDARD: Womit verbringen Sie besonders viel digitale Zeit?

Passig: Wo die Buchstaben stehen, die ich aufsauge, das wechselt einmal mehr, einmal weniger. Twitter ist sicher zurzeit am wichtigsten. Zwei solcher Netzwerke sind viel, drei gehen überhaupt nicht. Das habe ich bemerkt, als es eine Weile Google+ gab.

STANDARD: Manche Kritiker fürchten, dass mit der Digitalisierung das tiefe Lesen verschwindet. Erleben Sie das auch so?

Passig: Nein. Seit es die Kindle-App für das Handy gibt, lese ich sogar wieder mehr.

STANDARD: Hadern Sie nicht manchmal mit der lieblosen Aufbereitung dieser E-Bücher?

Passig: Den Verlagen sind die E-Books egal. Das ärgert mich sehr. Es gibt auch keine Feedback-Möglichkeit. Amazon ist so eine Sache. Aus historischen Gründen bin ich voreingenommen, denn für mich war es ein Riesenfortschritt, als man Ende der 1990er-Jahre plötzlich englischsprachige Bücher zum Originalpreis bekommen konnte. Das halte ich Amazon bis heute zugute.

STANDARD: Wie finden Sie aus der Masse die Bücher, die Sie lesen?

Passig: Das kann man alles bei Goodreads nachschauen, da habe ich ein Profil. Derzeit arbeite ich den Männerüberschuss ab, das heißt, ich darf bis 2025 kein einziges Buch von einem Mann lesen, so schlimm war bisher das Ungleichgewicht. Ich habe schnell festgestellt, dass dieser Beschluss positive Folgen hat, weil ich nicht immer reflexhaft das nächste Buch von einem Mann lese. So stieß ich zum Beispiel auf Marlen Haushofer und habe festgestellt: Es gibt doch Gründe, warum Die Wand so bekannt ist, ich hatte mir davon nichts erwartet und mochte es sehr gern. Ich habe lange Zeit super testosteronhaltige Bücher gelesen, in der Art von Cormac McCarthy: Staub und Mord und Totschlag und einsame Männer. Diese Form von Literatur ist auch sehr gut untereinander vernetzt.

STANDARD: Halten Sie sich an Empfehlungen, die Amazon gibt?

Passig: Amazon-Empfehlungen waren immer Schrott. Anderswo wird in diese Muster aber viel Forschung reingesteckt. Netflix veröffentlicht da seine Erkenntnisse. Die haben großes Interesse daran, gute Empfehlungen zu liefern, bei Amazon gammelt das vor sich hin. Bei Goodreads habe ich eine Schublade für Empfehlungen mit "female authors", allerdings habe ich nicht das Gefühl, dass die Seite versteht, was ich damit meine. Aber in den letzten Jahren sind bei Goodreads zumindest ein paar Leute eingewandert, die etwas anderes lesen als Fantasy und Young Adult.

STANDARD: Letztes Jahr haben Sie besonders viel gelesen, sieht man auf Goodreads.

Passig: Das hatte mit A Song of Ice and Fire zu tun. Ich hab alles gelesen, mich aber die ganze Zeit geärgert, und bin doch an der schmutzigen Nadel gehangen. Ich wollte wissen, wie es weitergeht. Es ging dann aber überhaupt nicht weiter.

STANDARD: Dieses Jahr scheinen Sie die Lektüreprdoduktivität sogar noch zu steigern.

Passig: Das wird wieder ein Rekordjahr werden, und dafür gibt es einen Grund: Ich gehe ins Fitnessstudio. Früher fand ich das immer eine abwegige Idee, inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Ich gehe in ein unhippes Studio mit einer sehr durchmischten Nutzerschaft. Da gibt es Geräte, da kann man sein Handy drauflegen, und jetzt gehe ich da immer hin zum Bücherlesen. Auf den Sitzfahrrädern hat man sogar die Hände frei. Ich freue mich immer drauf, eine Stunde komplett ungestört lesen zu können.

STANDARD: Woran sind Sie aktuell dran?

Passig: Ich lese über Frauen in Island im Mittelalter, denn ich arbeite gerade, gemeinsam mit Aleks Scholz, an einem Handbuch für Zeitreisende, Band eins: Vergangenheit. Im Mittelalter gab es für alleinreisende Frauen fast nur problematische Reiseziele. Ich stelle mir vor, dass man es in Island als Frau allein aushalten kann.

STANDARD: Abschließend eine Frage zum Thema, ob Literatur auch von künstlicher Intelligenz erschaffen werden könnte. Was ist denn ein Gomringador?

Passig: Es gab Anfang letzten Jahres diesen Streit um ein Gedicht von Eugen Gomringer, das an der Außenwand einer Berliner Hochschule zu lesen war. Es entstand eine Diskussion darüber, ob man da einen leicht sexistischen Unterton herauslesen könnte, und es wurde schließlich entfernt. Jemand schlug daraufhin vor, dass man einen Twitter-Bot schreiben könnte, denn das Gedicht hat eine einfache Struktur. Der Gomringador ist das Ergebnis dieser Idee: Er twittert seither automatisch Gedichte vor sich hin. (Bert Rebhandl, 31.8.2019)