Tunesiens Präsidentschaftswahl verspricht Spannung, denn der Ausgang der ersten Runde am 15. September gilt nicht nur als richtungsweisend, sondern auch als völlig offen. Zu den Favoriten auf den Einzug in die Stichwahl zählt zweifelsfrei der 72-jährige Abdelfattah Mourou, Mitgründer und offizieller Kandidat der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei.

Präsidialer Favorit: der 72-jährige Abdelfattah Mourou, Mitgründer und Kandidat der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei.
Foto: AFP / Hasna

Diese setzt derzeit zum großen Wurf in Tunesiens Politik an. Denn während sie auch bei der im Oktober geplanten Parlamentswahl stark abschneiden dürfte, präsentiert sie diesmal erstmals einen eigenen Präsidentschaftskandidaten.

Wie gut ihre Chancen wirklich sind, ist unklar. Denn die Partei unter dem charismatischen Rached Ghannouchi hat weiterhin mit heftigem Gegenwind zu kämpfen. Bis heute wird ihr unterstellt, sich öffentlich pragmatisch-modern zu geben, eigentlich aber eine deutlich konservativere Agenda zu verfolgen. Vor allem in linken und liberalen Kreisen wird ihr vehement misstraut.

Geschickter Schachzug

Ein Staatspräsident aus den Reihen Ennahdas ist für viele Menschen weiterhin unvorstellbar. Mourou als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen war vor diesem Hintergrund fraglos eine geschickte Personalentscheidung, könnte sie doch Ennahdas Einfluss auch abseits ihrer traditionellen Wählerbasis ausbauen.

Der aus einem bürgerlichen Umfeld in Tunis stammende Mourou gilt als moderater, pragmatischer und auf Konsens setzender Vertreter seiner Partei. Als stellvertretender Parlamentspräsident hatte er in den vergangenen fünf Jahren zudem ein Amt inne, das Verhandlungsgeschick im Umgang mit politischen Rivalen erforderte. Rhetorisch gibt er sich heute betont überparteilich und präsidial. "Ich habe immer versucht, ein Vermittler zwischen Ennahda und anderen Parteien zu sein. Das ist die Aufgabe des Staatspräsidenten: allen zuzuhören und mit allen zu sprechen", sagte Mourou dem STANDARD im Vorwahlkampf. "Der Präsident ist nicht da, um seine Partei zu repräsentieren."

"Muslimdemokraten"

Diese firmiert dabei schon länger unter dem Label "Muslimdemokraten", während Mourou selbst inzwischen den Begriff "konser vativ" ins Spiel bringt und damit die explizite Abgrenzung seiner Partei zu den Muslimbrüdern konsequent fortsetzt. Die Vorurteile ge genüber seiner Kandidatur kann er demnach nicht nachvollziehen. Der Staatspräsident habe schließlich keine exekutive Macht, diese werde vom Premier ausgeübt, erklärt Mourou beschwichtigend. "Ich verstehe die Bestürzung und dieses Gefühl der Angst darüber nicht, dass die Islamisten das Präsidentenamt übernehmen könnten."

Sollte Mourou den Präsidentenpalast in Carthage im Norden von Tunis erobern und seine Partei erwartungsgemäß stärkste Kraft im Parlament werden, dürfte Ennahda in Tunesiens Politik jedoch einflussreicher sein als je zuvor. Es wäre aber kein Problem, wenn es einen Präsidenten aus den Reihen Ennahdas und gleichzeitig eine parlamentarische Mehrheit für Ennahda gäbe, so Mourou. "Das ist das Wesen eines parlamentarischen Systems, in dem es immer eine dominante Kraft gibt. Wenn wir eine Mehrheit im Parlament haben sollten, müssen wir uns sowieso mit zwei anderen Parteien zusammenschließen." Er werde weiterhin für eine konsensorientierte Politik in Tunesien einstehen, versicherte er.

Werben um dieselben Wählergruppen

Derweil könnte in der Stichwahl abermals ein Zweikampf zwischen moderaten Islamisten und dem wirtschaftsliberal-säkularen, antiislamistischen Lager bevorstehen – mit ungewissem Ausgang. Denn in beiden Lagern konkurrieren mehrere hochkarätige Bewerber um dieselbe Wählerbasis. Während im Dunstkreis der Partei Nidaa Tounes gleich fünf ehemalige hochrangige Parteifunktionäre kandidieren, hat es Mourou im eigenen Lager mit zwei Konkurrenten zu tun.

Neben dem bereits 2014 aus der Partei ausgetretenen Expremierminister Hamadi Jebali kandidiert auch der ehemalige Ennahda-Funktionär Hatem Boulabiar, der der Partei erst im Juli den Rücken gekehrt hat.

Entscheidend für den Ausgang der ersten Wahlrunde dürfte demnach sein, wie stramm Ennahdas Basis hinter der Partei steht und ob Mourou mit seiner auf Überparteilichkeit setzenden Rhetorik in andere Wählerschichten vorzudringen vermag. (Sofian Philip Naceur aus Tunis, 31.8.2019)