Vom Mond zum Mars und weiter Richtung Neptun ist Brad Pitt in "Ad Astra" als quasi einsamer homerischer Held zunehmend mit seinen Schwächen konfrontiert.

Francois Duhamel

Venedig als die große alte Dame der Filmfestivals zu bezeichnen fällt gerade etwas schwer. Am Lido hängt man gerne nostalgisch Bildern von Glamour nach, die Gondeln tragen alten Glanz. Die Debatte, ob es ein deutlicheres Engagement für Regisseurinnen braucht, schwelt dennoch weiter. Auch Filmemacherin Lucrezia Martel hat sich eingebracht. Als Experiment hätte man den Wettbewerb auch ausgewogen besetzen können, so die Jurypräsidentin in Richtung Direktor Alberto Barbera – nur um zu sehen, was am Ende dabei herauskommt. In Zeiten, in denen sich das Kino neu definieren muss, sollten auch Festivals alternative Wege einschlagen.

Äußerst vernünftig klang Martels Haltung gegenüber Roman Polanski: Sie würde ihm nicht persönlich gratulieren – er ist am Ende nicht angereist -, aber sie hält es für richtig, seinen Film J'accuse zu zeigen. Komplizierte Fälle verlangen eben Positionen, die mehrere Gedanken zulassen. Das gilt auch für Polanskis Film selbst: Natürlich will man sehen, auf welchem Weg er sich dem historischen Fall Dreyfus nähert; auch wie stark er den Skandal um den fälschlich als Landesverräter verurteilten Hauptmann, den der Schriftsteller Émile Zola zu seinem berühmten Artikel J'accuse veranlasste, auf sich bezieht.

In dem von Polanski mit Robert Harris verfassten Drehbuch bleibt Dreyfus (Louis Garrel) jedoch eine Nebenfigur. Im Mittelpunkt steht jener Mann, der zur Revision des Falles beigetragen hat. Der Offizier Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin) war Dreyfus' Ausbildner beim Militär und zunächst aufseiten der Ankläger; als Leiter der Spionageabwehr, wo er Beweise für dessen Unschuld fand, wandelte er sich schließlich zum Aufdecker, ja Ritter der Wahrheit.

Film der Zukunft

Erzählerisch ein kluger Schachzug; die Perspektive richtet sich so ganz nach innen. Polanski hat einen gravitätischen Politthriller gedreht, der den Antisemitismus und die korrupte Günstlingspolitik der Dritten Republik vor Augen führt. In einem elegant geradlinigen, fast zurückhaltenden Stil, der oft nur in den Dialogen Emphase erlaubt, drängt J'accuse hinter die Korridore der Macht, ortet die Brutstätten von Intrigen und Manipulation. Analogien zur Gegenwart sind höchstens impliziter Natur. Der Unterschied zwischen Fakt und Fiktion ist schon damals wenig wert. Wer wie Picquart an Unschuld glaubt, erntet Spott: "Seien Sie nicht sentimental."

Wo Polanski über die Vergangenheit ein marodes Staatssystem erschließt, wählt James Gray die Zukunft, um in Ad Astra von menschlicher Hybris zu erzählen. Er hat sein Weltraumdrama im Vorfeld als Mischung aus 2001 und Apocalypse Now bezeichnet, nun aber in Venedig betont, dass er sich mit den Meisterwerken niemals messen wollte. Er kann durchatmen. Denn ein äußerst eigenständiges, in atemberaubenden Bildern umgesetztes Raumfahrerdrama ist ihm geglückt.

Brad Pitt nimmt als einsamer existenzialistischer "Major Tom" im Dienst von "Spacecom" die Suche nach seinem Vater auf. Der war ein Pionier auf der Suche nach extraterrestrischem Leben, seine Mission scheiterte, er blieb verschollen. Nun argwöhnt man, er trage Mitschuld an kosmischen Druckwellen. Der mythenschwere Plot ist eher nur der Anlass als die Essenz des Films: Vom Mond zum Mars und weiter Richtung Neptun ist Pitts homerischer Held zunehmend auf sich gestellt und nimmt somit auch Kurs auf eigene Unzulänglichkeiten.

Introspektion trifft Aktion

Triphaft ist das, wobei Gray souverän zwischen introspektiven Passagen, die den Film stellenweise wie eine Science-Fiction-Arbeit von Terrence Malick wirken lassen, und plötzlichen Aktionsmomenten changiert. Bei Letzteren werden auch physikalische Besonderheiten der Orte berücksichtigt. Eine Verfolgungsjagd auf der Mondoberfläche, bei der in der Stille Ängste widerzuhallen scheinen, hat man so überzeugend noch kaum im Kino gesehen.

Zurück auf der Erde beschäftigt sich Noah Baumbach in Marriage Story hochkomisch und todtraurig zugleich mit dem Prozess einer Beziehungsauflösung. Der Titel des Films ist eigentlich eine kleine Irreführung, denn als wir das von Scarlett Johansson und Adam Driver famos gespielte Ehepaar kennenlernen, ist alles gelaufen. Nicole ist Schauspielerin, Charlie meistens ihr (Theater-)Regisseur.

Eigentlich wollen sie sich ohne viel Tamtam trennen. Doch dann werden sie, angestachelt von ihren Anwälten (Laura Dern, Alan Alda, Ray Liotta) gleichsam vom Rechtssystem Scheidung verschluckt. Und plötzlich steht alles auf dem Spiel: vom Sorgerecht um den Sohn bis zur weitgehend glücklichen Geschichte der Ehe selbst. Baumbach erzählt fast niemals retrospektiv, sondern immer in der Gegenwart; dennoch ist hier jeder Moment gesättigt von Erinnerungen, widerstreitenden Gefühlen, Komik und Schmerz.

Es sind allesamt großartig geschriebene Szenen, in denen Baumbach die Partner weitgehend isoliert mit ihren Rollenbildern konfrontiert. Und durch die man mit der Zeit immer besser zu verstehen beginnt, was sie dorthin gebracht hat. (Dominik Kamalzadeh, 30.8.2019)