Autofahrer als Feind? Aus Sicht der schwächeren Verkehrsteilnehmer ist diese Meinung nachvollziehbar.

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Klaus Gietinger will mehr Platz für Fahrräder und Fußgänger.

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Die Automesse IAA in Frankfurt steht vor der Tür. Zu Zeiten, in denen das Auto immer mehr als Klimasünder gilt. Fridays for Future wird dies mit Protesten vor der Messe ausdrücken. Deutschlandweit sollen auch Organisationen der linksautonomen Szene zur Störung aufrufen, heißt es in deutschen Medien. Andere, wie der deutsche Sozialwissenschafter Klaus Gietinger, wollen das Auto gleich abschaffen. Allein ist er mit dieser radikalen Haltung nicht.

STANDARD: Sie schreiben ein Buch mit einer klaren Botschaft: Das Auto muss weg. Sind Sie ein Wutbürger und Autohasser?

Gietinger: Wutbürger bin ich keiner, nein. Auch kein Autohasser.

STANDARD: Aber Sie müssen ein glücklicher Stadtbewohner sein, sonst könnten Sie das nicht so kategorisch verlangen.

Gietinger: Ja, ich komme aber vom Land. Mein letztes Auto habe ich vor 35 Jahren abgeschafft.

STANDARD: Sie zitieren jemanden, der das Auto als eines der dümmsten technischen Geräte klassifiziert, die derzeit auf dem Markt sind. Jetzt bekommen wir einen Computer auf Rädern, das Auto wird bald selbst fahren, einst hat es uns die Freiheit der Mobilität geschenkt. Was ist daran dumm?

Gietinger: Das Auto als Massenverkehrsmittel und Privatauto ist eine Fehlentwicklung der Moderne. Natürlich braucht man Feuerwehrautos, Krankenwagen etc. Aber das Privatauto eskaliert immer mehr weltweit. Es gibt immer mehr Tote, immer mehr Umweltverschmutzung, und vor allem das CO2 nimmt gerade beim Auto, beim Verkehr immer mehr zu.

STANDARD: Dafür machen Sie auch die Politik verantwortlich. Sie schimpfen auf deren Hybris, die Fridays for Future loben lässt, etwa die protestantische Physikerin Merkel, andererseits sich die Regeln der Autobauer diktieren lässt. Sie klingen richtig erbost.

Gietinger: Ja. In Deutschland haben wir 3500 Tote auf der Straße. Viele sagen, das war früher viel schlimmer. Aber stellen Sie sich vor, die Eisenbahn oder das Flugzeug hätten so viele Tote. Die dürften weder fliegen noch fahren. Nehmen Sie die Umweltverschmutzung dazu, Feinstaub, Stickoxyde und was sonst noch so an karzinogenen Stoffen aus dem Auspuff rauskommen, dann sind sie im fünfstelligen Bereich der Toten.

STANDARD: Das Massenvernichtungsmittel, das in einigen Jahren 50 Millionen Krüppel produziert, wie Sie sagen, wurde viel sicherer.

Gietinger: Ja, in den Autos. Aber ich bin zum Beispiel Fahrradfahrer. In Deutschland haben die Toten bei den Fahrradfahrern um über elf Prozent zugenommen. Auch bei den Fußgängern sieht es nicht so rosig aus.

STANDARD: An Lösungen wird allerorts getüftelt ...

Gietinger: Seit Jahrzehnten sagen Politiker, man müsse den öffentlichen Verkehr verbessern. Natürlich muss man das. Aber man muss auch den Fahrradfahrern mehr Raum geben, und den Fußgängern. Da kommt man sofort zur Parksituation. Überall steht in den Städten dieser Blechmüll herum. Das sind öffentliche Räume, die privat belegt werden.

STANDARD: Das klingt plausibel für Städter. Was ist mit den Menschen auf dem Land? Mit den Menschen, die am "automobilkreierten Arsch der Welt" wohnen, wo Frauen Kinder zur Schule oder zum Pferdchen fahren und wo sie freiwillig hingezogen sind, wie Sie sagen?

Gietinger: Ich bin in einer ganz kleinen Stadt aufgewachsen. Damals gab es Eisenbahn und Bahnhof. Das gibt es schon lange nicht mehr. Das Auto hat dafür gesorgt, dass das Land seine Originalität und seine Struktur verloren hat. Kinos, Kneipen, Tante-Emma-Läden sind verschwunden, weil man mit der Motorisierung immer weiter gefahren ist. Das Auto hat das Land erst 'arm gemacht'.

STANDARD: Die Industrie, oder der Drogendealer, wie Sie sagen, sieht das anders. Und sie sorgt für Jobs und hohe Wertschöpfung.

Gietinger: Natürlich spielt das eine große Rolle. Aber man muss auch mal auf andere Fahrzeuge setzen. Bis vor ein paar Jahren gab es übrigens genauso viele Arbeiter und Angestellte bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, das wurde immer mehr reduziert, und niemand hat laut geschrien. Und: Bei der Fahrradindustrie sind 250.000 Jobs dazugekommen. Wir brauchen eine Wende. Viel Zeit bleibt nicht.

STANDARD: Und wer soll das bezahlen? Im Übrigen ist die Bahn nicht immer umwelttechnisch überlegen – vor allem wenn im Auto fünf Leute sitzen.

Gietinger: In welchem Auto sitzen fünf Leute drinnen? In Deutschland ist der Durchschnitt bei Männern 1,2. Bei Frauen ist er höher, weil sie ihre Kinder durch die Gegend fahren müssen. Aber natürlich muss die Bahn elektrifiziert werden. In der Schweiz ist alles elektrifiziert in Österreich relativ viel. Bei uns in Deutschland sind es nur 60 Prozent, das ist Schwachsinn.

Aber zum Geld: Kürzlich ist eine Studie herausgekommen: Die externen Kosten des Verkehrs – etwa Umweltverschmutzung, Unfälle etc. – in Deutschland belaufen sich auf ungefähr 150 Milliarden im Jahr. Rund 95 Prozent ist der Anteil des Autoverkehrs. Also: Gut 140 Milliarden kostet dieser Autoverkehr uns alle. Das ist ganz viel Geld. Wenn ich den Autoverkehr zurückfahre, habe ich dieses Geld zur Verfügung, um vernünftige Projekte umzusetzen. Das wird man machen müssen, weil wir haben nicht mehr viel Zeit. Der C02-Ausstoß beim Verkehr wächst und wächst und wächst.

STANDARD: Ideen gibt es ja einige. Was schlagen Sie auf die Schnelle vor?

Gietinger: Vor kurzem kam ein Bericht über eine Kleinstadt in Spanien, Ponte Vedra. Da ist so gut wie kein Autoverkehr mehr in der Innenstadt. Und das funktioniert. Die Geschäfte haben mehr Kunden. Und das wollen sie jetzt ausweiten. Auf die ganze Region. Solche Sachen werden überall in Europa kommen müssen.

STANDARD: Das wäre also eine der Ideen, die Sie unter dem Schlagwort Lichtblicke versammeln würden. Der Teil ist recht schmal in Ihrem Buch. Aber Sie halten ja auch von all den Hoffnungsträgern wie Hybridmotoren, E-Mobilität rein gar nichts. Dass die Umweltbilanz umstritten ist, ist bekannt. Aber es wird uns Besserung versprochen. Was haben Sie daran auszusetzen?

Gietinger: Man darf das Pferd nicht von hinten rum aufzäumen indem man sagt, man löst das alleine technisch. Man kann nicht einfach den Motor austauschen und glauben, man kann weiterhin mit Abermillionen an Fahrzeugen durch die Gegend fahren. Da habe ich trotzdem den gleichen Platzverbrauch und die gleichen Gefahren für Fußgänger und Radfahrer. Die Umweltverschmutzung habe ich nur verlagert. In China bauen sie jetzt Atom- und Kohlekraftwerke für ihre Elektroautos. Nein, es muss ein anderes Verkehrskonzept her.

Dann kann ich in irgendwelchen Nischen Elektrofahrzeuge einsetzen, bei der Polizei, bei der Feuerwehr, bei Sammeltaxis. Aber der O-Bus wird eine Renaissance erleben, weil der Batteriebus ist ein Witz. Die ganzen Oberleitungsfahrzeuge, Straßenbahn oder Trolleybus sind fast ideal, wenn man den Strom regenerativ herstellt. Da geht lang nicht soviel verloren wie bei der Batterie. Und die ganzen Rohstoffe, die aus der dritten Welt geholt werden, brauchen sie nicht mehr.

STANDARD: In der Stadt also eine Radikalkur. Machen Sie die Rechnung ohne die Bürger? Viele lieben besonders dicke Autos und wollen sie auch fahren ...

Gietinger: Ja, wenn man einmal motorisiert ist. Das ist eine Droge, von man nicht mehr wegkommt.

STANDARD: Was schlagen Sie vor? Ein staatliches Entwöhnungsprogramm?

Gietinger: Staatlich klingt so böse, ich würde sagen: gemeinschaftlich. Das wird man machen müssen. Aber man wird auch das Auto radikal zurückfahren müssen. Ganz wesentlich: Wir müssen runter mit der Geschwindigkeit. Auf der Landstraße 70, auf der Autobahn 100, in der Stadt oder in geschlossenen Ortschaften 30. Und Parkplätze müssen teurer werden. (rebu, 2.9.2019)