Heldentenöre wie Plácido Domingo, hört die Signale: Aus Stimmrücksichten darf keine Pardonierung von sexuellen Übergriffen erfolgen.

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Für alle Vertreter des liberalen Meinungspluralismus, die guten Willens sind, ist die politische Korrektheit eine notwendige Medizin. Man sollte, um sittlich verantwortlich zu handeln, ihrer Verschreibung unter allen Umständen zustimmen. Der Hinweis, die Verabreichung einer solchen Medizin sei für manche, angeblich privilegierte Menschen mit bedeutenden Unannehmlichkeiten verbunden, verfängt nicht. Im Gegenteil: Das vermeintliche Übel wird zum Symptom der medizischen Wirksamkeit erklärt.

Nur was schmerzt, hilft. Eine moralische Abreibung ist auch für einen Startenor wie Plácido Domingo im Herbst seiner Stimmkraft kein Spaß. Der Volksmund nennt eine kräftige Abreibung nicht von ungefähr "gesund". Es ist in der Tat kein Verhalten zu tolerieren, das von der verschwenderischen Fülle kultureller Übermacht die Handhabe zu sexueller Belästigung ableitet.

Die handfesten Paradoxa der Identitätspolitik sind mit dieser Einsicht jedoch nicht aus der Welt. Unsere Diskurse werden mit Empörungsschaum geflutet. Den sparen sich immer mehr Menschen pflichtschuldig vom Munde ab.

Großräume für Empörung

Die grassierende Empfindlichkeit von immer mehr (potenziellen) Opfergruppen schafft Großräume für Empörung. Damit entsteht auch immer mehr Platz für die Aufstellung von Verbots- und Achtsamkeitstafeln. Letztlich ist der neue Gleichheitsgrundsatz derjenige seiner eigenen, notwendigen Aufhebung: Nimm immer neue Besonderheiten wahr und mach‘ zugleich, dass sie für dich keinen Unterschied bedeuten!

Auf der Strecke bleiben in einem solchen Klima verschärfter Differenzwahrnehmung nicht notwendigerweise die Privilegien alter, weißer, herrischer Männer. Auf die hauchfeinen Verhältnisse der Ästhetik abgebildet, kann Unduldsamkeit, die sich politisch korrekt dünkt, den Gehalt wertvollster Kunstwerke irreparabel beschädigen. Stefan Grissemann hat im "profil" unlängst völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass im Bemühen, politische "Richtigkeit" abzubilden, Kunstwerke unentwegter Überarbeitung bedürften. Am Ende eines solchen Prozesses stünde unterschiedslos ihre völlige Vernichtung.

So wird der Normverletzung selbst der Prozess gemacht. Totaler Vergessenheit scheint die Tatsache anheim gefallen, dass die Kunst der Moderne sich einst als diejenige Waffe verstand, die es galt, der Bourgeoisie ins welke, verkommene Fleisch zu jagen.

Laut und Lauterkeit

Mit der Anbetung des Bösen und Obszönen ging seit den Tagen eines Charles Baudelaire der Wunsch einher, das auf Gewinn gerichtete Streben der besitzenden Klasse nochmals zu überbieten. Man tönte lauter; aber man tat es um der Lauterkeit willen.

Verausgabung, die diesen Namen verdient, zieht mitunter scheußliche Grimassen. Sie bedient sich der Kunst, weil nur diese schamlos zu übertreiben versteht. Erst durch kolossale Verrenkungen äfft sie die geheuchelte Rechtschaffenheit derjenigen nach, die ihre erschlichenen Privilegien gerne im Schutz der eigenen vier Wände stillschweigend genießen würden. Kunst macht das Verschwiegene sichtbar. Sie ist (auch) Rausch, Verausgabung, zum Himmel schreiender Exzess. Sie ist diejenige Medizin, deren Einnahme schmerzhaft sein kann.

Kunst, die aus solchen Bezirken ihre Daseinsberechtigung schöpft, schließt fallweise Bekanntschaft mit dem Bezirksrichter. Doch am "Potlatsch" ihrer Gabenfülle müssen gegebenenfalls auch die Bemühungen der Korrektheit zuschanden gehen. Solche Überlegungen machen aus einem notgeilen Tenor keinen Helden, der, irgendwelcher Stimmrücksichten wegen, entschuldigt gehört. Man sollte sich nur hüten, einem weißen Außenseiter wie dem Dichter Jean Genet z. B. post mortem zu verbieten, das N-Wort im Mund zu führen. Noch immer sind Versklavung und Ausbeutung universelle Kategorien. (Ronald Pohl, 3.9.2019)