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Die erste kosmische Geschwindigkeit ist diejenige, die ein Körper haben muss, um die Erde in einem stabilen Orbit zu umkreisen. US-Autor Zach Powers, von dem bislang erst eine Kurzgeschichtensammlung erschienen ist, dient sie als griffiger Titel für seinen Debütroman, eine Alternativwelterzählung um die Pioniertage des Weltraumzeitalters. In vielerlei Hinsicht ist "First Cosmic Velocity" dabei das komplementäre Gegenstück zu Mary Robinette Kowals Erfolgsroman "The Calculating Stars" – also auch der Schatten zu dessen Licht.

Im Mittelpunkt steht diesmal nicht das US-amerikanische, sondern das sowjetische Raumfahrtprogramm. Und dessen öffentlichkeitswirksame Erfolge beruhen in Powers' etwas anderem Verlauf der Historie auf einem gewaltigen Betrug: dem Einsatz von Zwillingen. (Ein Motiv, dem man sonst eher in Geschichten um Magier begegnet, siehe etwa den Film "The Prestige" oder die TV-Serie "Deception".) Denn die sowjetischen Raketeningenieure haben es zwar geschafft, Kapseln mit Kosmonauten in den Orbit zu bringen – doch übersteht kein Hitzeschild den Wiedereintritt in die Atmosphäre. Also lässt man jeweils einen der Zwillinge im All verglühen und schickt anschließend den zweiten, von dessen Existenz niemand außerhalb eines kleinen Grüppchens Eingeweihter etwas ahnt, auf PR-Tour.

Personen mit Wiedererkennungswert

Im Kern geht dieser unmenschliche Plan in Powers' Szenario auf den legendären Weltraum-Visionär Konstantin Ziolkowski – bekannt unter anderem als Schöpfer der Idee vom Weltraumfahrstuhl – zurück, der in "First Cosmic Velocity" allerdings nur als Randfigur auftaucht. Zudem lässt Powers offen, wie weit Ziolkowski seine Zwillingsforschung wirklich treiben wollte. In seiner jetzigen Form wird der Plan jedenfalls vom "Chief Designer" abgewickelt, der zwar namenlos bliebt, mit Blick auf die sowjetische Raumfahrtgeschichte aber unschwer als Sergei Koroljow zu erkennen ist. Insbesondere, da er ständig unter dem Druck eines konkurrierenden Raketenprojekts steht, das vom "General Designer" (in unserer Welt: Wladimir Tschelomei) geleitet wird.

Auch andere Personen und Ereignisse aus der realen Geschichte greift Powers auf und stellt sie in einen neuen Kontext. Interessant ist dabei, dass er vor den ganz großen Namen zurückschreckt – vielleicht aus Respekt, immerhin zollt er dem realen sowjetischen Weltraumprogramm im Nachwort ausdrücklich Anerkennung. So macht er die fiktiven Kosmonauten Leonid und Nadya (sie war in der Romanwelt der erste Mensch im All) zu seinen Hauptfiguren, während Yuri (Gagarin) und Valentina (Tereschkowa) nur zu Cameo-Auftritten kommen. Auch sie haben aber Geschwister im Weltraum verloren.

Die Handlung

Der Roman beginnt im Jahr 1964, als Leonid als letzter der fünf – respektive zehn – Kosmonauten der ersten Generation von Baikonur aus zu seiner Mission in den Orbit aufbricht. Kurz nach dem Start wird bereits ein Duplikat seiner Kapsel in die Steppe gekarrt, das mit Flammenwerfern die notwendigen Wiedereintrittsspuren erhalten hat, und die PR-Chose mit seinem Zwillingsbruder kann beginnen. Auch der "heißt" übrigens Leonid: Nichts unterstreicht die Unmenschlichkeit des Programms besser als der Umstand, dass man die Zwillingspaare jeweils wie eine einzige Person behandelt – ihre Geburtsnamen werden wir nie erfahren.

Als – wenn man so will – Plot-Driver fungieren zwei Umstände, die das Programm in Gefahr bringen. Zum einen ist Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow, der vom Zwillingskonzept nichts ahnt, so von den vermeintlichen Erfolgen im All begeistert, dass er auf die nächste Mission seinen eigenen Hund mitschicken will. Und damit eine hektische Suche nach einem Double auslöst. Zum anderen ist der Leonid im Orbit unerklärlicherweise nach einigen Wochen immer noch am Leben und zieht einsam seine Bahn, die immer mehr Bowies "Space Oddity" zu gleichen beginnt.

Entfremdung

Trotz des Szenarios darf man sich von "First Cosmic Velocity" kein "Unternehmen Capricorn" erwarten. Tempo und Action spielen hier keine prominente Rolle, vielmehr geht es Powers um das Innenleben seiner Charaktere. Ihre PR-Auftritte führen sie in westliche Hauptstädte ebenso wie in die russische Provinz, wo sich die ärmliche Landbevölkerung um mobile Planetarien versammelt, die man auf dem Kartoffelacker abgestellt hat. Und überall stellt man Leonid und Nadya die eine Frage, die sie nur vom Hörensagen beantworten können: Wie ist es da draußen?

Auch in "The Calculating Stars" litt die Hauptfigur unter dem PR-Anteil ihrer Arbeit. Was für sie nur ein Ärgernis war, löst in Powers' Protagonisten aber aufgrund der Umstände eine zunehmende Entfremdung aus. Leonid bezeichnet sich selbst als Pawlowschen Kosmonauten, weil er nach Jahren des Trainings automatisch zu lächeln und winken beginnt, wenn er irgendwo Applaus hört. Und all die Ehrungen, mit denen die Helden der Sowjetunion überschüttet werden, kann er auch nicht ernst nehmen. Er erfindet Namen ("Little Metal Lenin Face") für Orden, deren offizielle Bezeichnungen er längst vergessen hat, und überlegt an einer Stelle, ob er Teile seines Lamettas durch selbstgebastelte Medaillen ersetzen soll.

Leise Töne

Nie sind es spektakuläre Wendungen, sondern stets nur kleine Beobachtungen, die uns die grausame Absurdität des Szenarios in Erinnerung rufen. Etwa wenn Nadya ihre Gala-Uniform betrachtet: She had worn it for probably a hundred appearances. The uniform alone might have traveled farther than her sister's single orbit.

Und doch machen sie weiter. Denn so pervers es auch erscheinen mag, das kleine Häuflein Eingeweihter bildet eine Art Familie – von den Kosmonauten bis zum Chief Designer ("I'm not a heartless man. I did what had to be done."), der anders als NASA-Programmleiter Dr. Kelloway in "Unternehmen Capricorn" nicht als Schurke gezeichnet wird. Sie alle sind letztlich Teile einer unmenschlichen Maschinerie, aus der sie keinen Ausweg sehen. "First Cosmic Velocity" hat eine ähnlich von Melancholie und Fatalismus geprägte Stimmung wie Kazuo Ishiguros "Alles, was wir geben mussten". Ein stiller Roman, aber ein gelungener.