Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: REUTERS/Pierre Albouy

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Schutt und Asche, und auch um die Wissenschaft war es schlecht bestellt. Viele Anlagen waren zerstört und viele der besten Wissenschafterinnen und Wissenschafter umgekommen, vertrieben oder geflüchtet. Unter diesen Bedingungen war es nur durch die Zusammenarbeit mehrerer Länder möglich, wieder erfolgversprechende wissenschaftliche Arbeiten durchzuführen. Einige Staaten Europas taten sich zusammen und gründeten im Jahr 1954 in Genf den Europäischen Rat für Kernforschung, auf Französisch Conseil Européen de Recherche Nucléaire, abgekürzt Cern – inzwischen betreibt Cern nicht mehr Kernphysik, sondern Elementarteilchenphysik, widmet sich also den kleineren Grundbausteinen der Natur.

Der erste Computer am Cern – Modell Ferranti Mercury – wurde im Juni 1958 installiert.
Foto: cern

Österreich erst zögerlich

Die Gründer des Cern hätten auch Österreich gerne gleich als Gründungsmitglied dabei gehabt, dazu kam es aber nicht – hauptsächlich wohl aus finanziellen Gründen. Der unermüdlichen Aufklärungsarbeit einiger hervorragender Physiker (Fritz Regler und Walter Thirring) ist es zu verdanken, dass man schließlich auch in Österreich verstand, wie wichtig die internationale Zusammenarbeit in der Wissenschaft ist. 1959 wurde dann Österreich Cern-Mitglied. Um die dadurch gegebenen wissenschaftlichen Möglichkeiten optimal zu nutzen, wurde einige Jahre danach das Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gegründet.

Grundlagenforschung, World Wide Web und Kernspintomograf

Und was hat Cern uns gebracht? Was hat – umgekehrt – Österreich dazu beigetragen? Aufgabe des Cern ist in erster Linie Grundlagenforschung – also nicht etwas, was man patentiert und dann gewinnbringend verkauft, sondern neue Erkenntnisse, die der gesamten Menschheit frei zugänglich und nützlich sind. Natürlich sind diese Ergebnisse der physikalischen Grundlagenforschung nicht direkt in technische Geräte oder Methoden umsetzbar. Ohne das wissenschaftliche Grundlagenwissen der Physik wären aber Dinge wie Telefon, Flugzeug, Laser, Radar, Kernenergie und so ziemlich die meisten Errungenschaften der modernen Technik nicht denkbar.

Manchmal kommt es auch zu Spin-offs, also Nebenerscheinungen, wenn die Forschenden für sich Instrumente entwickeln, die dann in ganz anderen Bereichen erfolgreich eingesetzt werden können – wie zum Beispiel das World Wide Web, das ursprünglich am Cern für den Informationsaustausch zwischen den Forschenden entwickelt wurde. Oder auch die starken supraleitenden Magneten, die vor allem für Beschleunigeranlagen entwickelt wurden, aber auch bei Kernspintomografen in der Medizin unumgänglich und somit für alle Menschen nützlich sind.

Tim Berners-Lee erfand am Cern das World Wide Web – als Nebenprodukt seiner eigentlichen Forschung.
Foto: cern

Die heutige Elementarteilchenphysik wird durch das sogenannte Standardmodell sehr gut beschrieben, eine Art Baukasten, dessen Bausteine die verschiedenen Elementarteilchen sind. Einige von diesen sind die Grundbestandteile der Atome, andere sind für die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen verantwortlich – bei manchen davon kann man sich zum Beispiel vorstellen, dass sie den Klebstoff darstellen, mit dem die Bestandteile der Atomkerne zusammengehalten werden. Die verschiedenen Bausteine wurden erst nach und nach entdeckt. So hatte man Anfang der 80er-Jahre noch nicht die sogenannten Vektorbosonen nachweisen können, die eine ganz wesentliche Rolle in der Beschreibung des radioaktiven Zerfalls spielen.

Nobelpreise mit österreichischer Beteiligung

Dann aber gelang es, am Cern Protonen mit hoher Energie gegeneinander zu schießen und dabei diese (sehr kurzlebigen) Vektorbosonen so zu erzeugen, dass man sie mit großen Detektoren – also Anlagen zum Nachweis von subatomaren Teilchen – sichtbar machen konnte. Österreich und das Institut für Hochenergiephysik der ÖAW waren am Experiment UA1 beteiligt, an dem die Vektorbosonen dann erstmals gefunden wurden. Für diese sehr wichtige Entdeckung gab es schließlich einen Nobelpreis. Er ging im Jahr 1984 an den Sprecher von UA1, Carlo Rubbia, und den Physiker, der die Methoden zur Erzeugung sehr intensiver Protonstrahlen im Beschleuniger entwickelt hatte, Simon van der Meer.

Der Detektor des CMS-Experiments, mit dem 2012 das Higgs-Boson nachgewiesen wurde.
Foto: cern

Eine andere wichtige Forschungsrichtung war die CP-Verletzung – eine kleine Asymmetrie bei gewissen Vorgängen, an denen Elementarteilchen beteiligt sind. Dieser kleine Effekt ist nicht ganz leicht zu erklären und könnte vielleicht nebensächlich erscheinen. Man weiß aber inzwischen, dass es ohne diese Erscheinung in unserer Welt keine Materie gäbe, also keine Sterne, Planeten, Menschen und so weiter. Ganz so nebensächlich ist das also dann doch nicht. Als Erster merkte dies übrigens der sowjetische Physiker Andrei Sacharow, der vielleicht manchen noch als sowjetischer Dissident und Freiheitsaktivist in Erinnerung ist. Der Nachweis der "direkten CP-Verletzung" gelang dann dem Cern-Experiment NA48, bei dem eine Gruppe von Österreichern eine wichtige Rolle spielte. Dies führte dazu, dass den beiden japanischen Physikern Kobayashi und Maskawa, die diesen Effekt vorhergesagt hatten, 2008 der Nobelpreis verliehen wurde.

Darstellung der Teilchenspuren beim Zerfall eines Higgs-Bosons.
Foto: cern

Heureka: Das Higgs-Teilchen wird entdeckt

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens war der letzte Baustein des oben erwähnten Standardmodells, der noch fehlte. Theoretisch vorhergesagt hatten es vor bereits rund fünfzig Jahren einige theoretische Physiker, allen voran Robert Brout, François Englert und – genau – Peter Higgs. Englert und Higgs konnten sich ihren Nobelpreis in Stockholm jedoch erst 2013 abholen (Brout war 2011 verstorben), nachdem die Cern-Physiker – unter aktiver Beteiligung der österreichischen Gruppe innerhalb des CMS-Experiments – das Higgs-Teilchen tatsächlich gefunden hatten. (Manfred Jeitler, 6.9.2019)