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Das Europäische Kernforschungszentrum (Cern) ist das größte Labor der Welt.
Foto: Picturedesk/Science Photo Library

Woraus besteht das Universum? Was hält die Welt zusammen? Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts? Es sind große philosophische, teils sogar religiös anmutende Fragen, denen sich das europäische Kernforschungszentrum Cern mittlerweile seit rund 65 Jahren widmet. Das Besondere dabei ist: Am Cern geht es nicht um den philosophischen Diskurs oder Glaubenssätze. Erstmals werden dort nach streng wissenschaftlichen Kriterien derartige Fragen bearbeitet.

Für solch ein außergewöhnliches Unterfangen braucht es besondere Experimente. Das Cern hat mehrere wissenschaftliche Durchbrüche erzielt: Es bestätigte und vervollständigte das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik, das alle Grundbausteine und fundamentalen Kräfte zusammenfasst. Dass keine Nation allein derartige Leistungen hervorbringen könnte, war von Anfang an klar.

Als das Kernforschungszentrum 1954 aus der Taufe gehoben wurde, war es nicht nur eine wissenschaftliche Grundsteinlegung von enormer Tragweite, sondern auch ein politisches Friedensprojekt. Noch wenige Jahre zuvor zutiefst verfeindete Staaten wie Deutschland und Großbritannien arbeiteten von Anfang an Seite an Seite in Genf dabei zusammen, die physikalischen Grundbausteine des Universums aufzuspüren. Es gehört zu den grundlegenden und befriedenden Eigenschaften der Hochenergiephysik, dass die Gesetze der kleinsten Teilchen keine nationalstaatlichen Unterschiede kennen.

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Der planmäßige Shutdown des unterirdischen Beschleunigerrings LHC bietet den Cern-Ingenieurinnen und -Ingenieuren momentan die Möglichkeit, notwendige Wartungen und Verbesserungen durchzuführen.
Foto: Picturedesk/Science Photo Library

Österreich hätte an sich von Beginn an dabei sein sollen, doch daraus wurde schließlich doch nichts. Das Land kam wenig später, im Jahr 1959, als 13. Mitglied zum Cern. Anlässlich des 60-Jahr-Jubiläums der österreichischen Cern-Mitgliedschaft findet in den kommenden Tagen eine Science Week statt, die die faszinierende Welt der Elementarteilchen einem breiteren Publikum zugänglich machen will.

Die Geburtstagsparty ist nicht ganz ungetrübt. Zunächst werden böse Erinnerungen an den 50er wach. 2009 verlautbarte der damalige ÖVP-Wissenschaftsminister Johannes Hahn, die Mitgliedschaft just nach 50 Jahren beenden zu wollen. Der Aufschrei war damals groß, weit über die Community der Teilchenphysiker hinaus, und der Vorstoß wurde schließlich abgeblasen.

Zwei Euro, 50 Cent pro Jahr

Österreich besitzt 2,16 Prozent der größten Maschine der Welt. 2019 beträgt der österreichische Cern-Mitgliedsbeitrag 22,7 Millionen Euro. Im Schnitt trägt also jede Österreicherin und jeder Österreicher rund zwei Euro, 50 Cent pro Jahr zum wissenschaftlichen Großprojekt teil.

Jochen Schieck ist Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Professor an der Technischen Universität Wien.
Foto: Hephy / Markus Tordik

Abseits der Finanzen befindet sich die Teilchenphysik aktuell in einer gewaltigen Umbruchphase. "Wir sind sehr verwöhnt gewesen", sagt Jochen Schieck, der seit 2013 Direktor des Wiener Instituts für Hochenergiephysik (Hephy) der Akademie der Wissenschaften ist und im Cern Council als wissenschaftlicher Vertreter Österreich vertritt. Das Standardmodell der Teilchenphysik war in den vergangenen Jahrzehnten ein hilfreicher Kompass, der immer neue Entdeckungen im Rekordtakt hervorgebracht hat.

Dazu muss man wissen, was am Cern gemacht wird. Im Laufe der Jahrzehnte sind in Genf immer leistungsfähigere Teilchenbeschleuniger gebaut worden. Der bislang größte ist der Large Hadron Collider (LHC) mit einem Umfang von knapp 27 Kilometern. Wie sein Name sagt, krachen beim LHC sogenannte Hadronen aufeinander – es handelt sich dabei um eine Klasse von subatomaren Teilchen. Genau genommen werden Protonen, die positiv geladenen Kernteilchen, oder Bleikerne beinahe auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht. Die eigentliche Wissenschaft am Cern beginnt da, wo die weggeschleuderten Bruchstücke dieser Kollision analysiert werden.

Österreichische Wissenschafter waren von Anfang an bei der Entwicklung des CMS-Experiments am Cern beteiligt.
Foto: Cern

Maschinen unterstützen bei Datenanalyse

Wenn subatomare Teilchen aufeinanderprallen, darf man sich das nicht wie einen Verkehrsunfall vorstellen. Die Bruchstücke einer Autokollision sind letztlich nichts anderes als kleinere Bestandteile der ursprünglichen Autos. Wenn Teilchen mit hohen Energien kollidieren, passiert etwas für unser Alltagsverständnis eher Kontraintuitives: Es entstehen mitunter noch größere, schwerere Teilchen. So kann die Kollision von zwei Protonen beispielsweise ein viel schwereres Higgs-Teilchen hervorbringen, wie es erstmals 2012 gelungen ist.

Leider passiert das nicht bei jedem Aufeinanderstoßen von Protonen, sondern nur in den allerseltensten Fällen. Eine wesentliche Herausforderung der Cern-Experimente ist daher die Datenanalyse. Die Datenmengen, um die es dabei geht, sind freilich viel zu groß, als dass Menschen sie überblicken könnten. Also kommen bei der Analyse Algorithmen zum Einsatz, die alle gewöhnlichen Daten herausfiltern, die Wissenschafter können sich voll auf die außergewöhnlichen Ereignisse konzentrieren.

Was ein kleines Land wie Österreich zu einem so großen Projekt wie dem Cern beitragen kann, lässt sich etwa an der erfolgreichen Suche nach dem Higgs-Teilchen zeigen. Zwei Experimente am LHC namens Atlas und CMS hatten die Aufgabe, das Teilchen, das für die Erklärung der Masse aller anderen Elementarteilchen eine zentrale Rolle spielt, zu finden. Die Wissenschafter des Wiener Hephy waren von Anfang an dabei, das Konzept des CMS-Experiments zu entwickeln, später waren sie in den Bau involviert und nehmen nun eine zentrale Rolle bei der Datenanalyse ein. Der Österreicher Wolfgang Adam leitet das Physik-Programm des CMS-Experiments.

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Dieses Archiv-Bild zeigt einen Wissenschafter bei der Datenanalyse des CMS-Experiments.
Foto: Reuters

Kleines Land, große Aufgaben

Mit Manfred Krammer gibt es einen weiteren Österreicher in einer Spitzenposition am Cern: Er leitet die Physik-Abteilung des Kernforschungszentrums. Der Österreicher Michael Benedikt wiederum leitet die Studie für die nächste Generation von Beschleunigern am Cern. "Es gibt viele Personen aus Österreich in wichtigen Positionen am Cern, die zeigen, dass man auch als kleines Land wesentliche Beiträge leisten kann", sagt Schieck. Neben dem Hephy sind das Stefan-Meyer-Institut der Akademie der Wissenschaften, die TU Wien, die Unis Wien, Innsbruck und Linz sowie die Fachhochschule Wiener Neustadt mit Experimenten am Cern beteiligt. Insgesamt sind 90 Österreicher am Cern angestellt, weitere 110 nutzen die Einrichtung.

Gerade für ein kleines Land ohne große Ressourcen sei es wichtig, auf Innovation und Technologie zu setzen, und die Wissenschaft, die am Cern betrieben werde, eigne sich hervorragend dafür, junge Menschen für Wissenschaft und Technik zu begeistern, sagt Schieck. "Für unsere Studenten und Nachwuchsforscher ist es extrem wichtig, dass sie am Cern arbeiten können."

Die nähere Zukunft am Cern heißt High-Luminosity LHC. Dabei soll der Parameter der Luminosität, der wesentlich für die Anzahl an Kollisionen ist, um den Faktor 10 gegenüber dem jetzigen LHC erhöht werden. Wenn der High-Luminosity LHC 2025 startet, erwartet man die Erzeugung von 15 Millionen Higgs-Teilchen pro Jahr.

In der Mitte des CMS-Experiments finden die Kollisionen statt. Der Kollisionsbereich wird ringförmig von Detektoren umgeben.
Foto: Apa

Aufbruch ins Ungewisse

Die fernere Zukunft des Cern ist hingegen noch ungewiss. "Die Diskussion ist voll im Gange, es ist eine schwierige Frage, und es gibt noch keine eindeutige Meinung", sagt Schieck. Eine Möglichkeit wäre, um etwa sechs bis sieben Milliarden Schweizer Franken (5,5 bis 6,4 Milliarden Euro) einen relativ kostengünstigen Linearbeschleuniger zu bauen, um Higgs-Teilchen noch genauer zu vermessen. Oder einen noch größeren Ringbeschleuniger, genannt Future Circular Collider (FCC), der 17 bis 24 Milliarden Schweizer Franken (16 bis 22 Mrd. Euro) kosten würde, um in eine neue Physik vorstoßen zu können. Doch bei derartigen Kosten brauchte es ein völlig neues Finanzierungsmodell für das Cern. So könnten Staaten, die keine Cern-Mitglieder sind, stärker zur Kasse gebeten werden, wenn sie die Infrastruktur in Genf nutzen wollen.

Jochen Schieck spricht von einer "Luxussituation" in den vergangenen Jahren. Denn bisher wussten die Physiker recht konkret, wonach sie suchen. "Jetzt ist aber unklar, was die nächste Energieskala ist, wo etwas passiert. Wir gehen daher wieder auf die ureigenste Form von Wissenschaft zu – den Aufbruch ins völlig Unbekannte", so Schieck. Diese Ungewissheit ist natürlich auch mit dem Risiko verbunden, möglicherweise um viel Geld neue Instrumente zu bauen – und letztlich nichts fundamental Neues zu finden.

Für viele andere Wissenschaftsbereiche ist diese Ungewissheit ein ständiger Begleiter, in der Teilchenphysik muss man sich allerdings erst wieder an sie gewöhnen. "Wir Teilchenphysiker sind einfach in der Vergangenheit extrem mit Erfolgen verwöhnt worden", sagt Schieck. "Es ist aber völlig in Ordnung, in der Wissenschaft in unbekannte Gebiete vorzustoßen, ohne noch zu wissen, was dabei herauskommen wird." (Tanja Traxler, 5.9.2019)